Aktuelle Rezensionen
belletristiktipps.de veröffentlicht regelmäßig Rezensionen von neuen Büchern aus dem Bereich Belletristik.
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Sybil Volks: „Die Glücksreisenden“
Eine Insel in der Nordsee erwartet einen Kometen. Und das zum Geburtstag im Juli von Oma Inge Boysen und Enkelin. Klingt „nur“ nach guter Unterhaltung. Deshalb war das Buch mit auf Reisen. Und wurde nicht mehr aus der Hand gegeben. Das Buch würde so unterschätzt – denn man kann sich vieles so ganz nebenbei als Impuls annehmen …
Geschildert werden die eigenen Charaktere der Insel – Nordlichter. Immer für eine Überraschung gut und viel mehr Herz als gerne gezeigt wird. Und ansonsten eben Menschen. Die Familie, sie ist ziemlich groß, hat aber auch sehr viel zu bieten.
Enno – ein Sohn, der wegen überstandener Krankheit mal eben um die Welt reist. Seine Frau Kerrin, die in die Familie hineingewachsen ist und nun neue Wege sucht. Und findet – wie überhaupt jeder der diesem Kosmos angehört. Deren Adoptivtochter Inka erfindet sich immer wieder neu und lebt ihre Überzeugungen.
Marcel Proust: „Der geheimnisvolle Briefschreiber — Frühe Erzählungen“
Neue Texte von Marcel Proust?! In der Tat handelt es sich (bis auf einen Text) um bislang unveröffentlichte Manuskripte und Fragmente von kurzen Erzählungen, die jetzt in einer schönen und schmucken Hardcover-Ausgabe mit Schuber im Suhrkamp Verlag erschienen sind. Allein der kurze Text „Erinnerung eines Hauptmanns“ war 1952 in einer getreuen Abschrift im Figaro littéraire veröffentlicht worden.
Neun kleine Erzählungen also des jungen Proust, die sich alle um ein Thema drehen: die Homosexualität. Nicht allein die literarische Auseinandersetzung mit jenem seinerzeit äußerst brisanten und heiklen Thema mag erklären, warum diese Texte Prousts unveröffentlicht geblieben sind; es handelt sich auch um Sujets und Passagen — manchmal auch um einzelne Charaktere —, die in der einen oder anderen Art von Proust später in seiner „Recherche“ wieder aufgegriffen wurden.
Peter Stamm: „Wenn es dunkel wird — Erzählungen“
Wenn es dunkel wird, kommen die Geister. Der Titel des neuen Bandes mit Erzählungen von Peter Stamm könnte kaum besser gewählt sein. Denn voller Geister sind diese neuen Erzählungen, voller Begegnungen mit Unbekannten oder lange vergessenen Personen, die plötzlich wieder in das Leben treten, nach Jahren, nach Jahrzehnten.
Es wäre zu weit ausgeholt, würde man Stamms Texte in die Nähe des Magischen Realismus rücken wollen, und doch umstrahlt seine Geschichten ein seltsam dunkler Flor. Magisch ist seine Erzählweise auf jeden Fall. Seine Akteure wandeln wie im Nebel, tasten sich durch ein Ungewisses. Der Leser geht mit und versucht mit Hilfe der Fantasie auf seine Art einen Weg, eine Lösung zu finden.
Bas Kast: „Das Buch eines Sommers – Werde, der du bist“
„Werde, der du bist.“ — Seit über 2500 Jahren geistert diese Aufforderung zur Selbsterkenntnis durch die abendländische Philosophie. Bereits der Apollotempel in Delphi trug die Inschrift „Γνῶθι σεαυτόν“ (Erkenne dich selbst) — ein Spruch, der von Chilon von Sparta, einem der Sieben Weisen, stammen soll.
„Werde, der du bist“, das ist die Aufforderung an jeden von uns, mit sich selbst ins Reine zu kommen und den eigenen Weg durchs Leben zu finden. Es ist im wahrsten Sinne eine grundlegende Aufgabe, sich dieser Frage zu stellen.
Wer bin ich? Was will ich? Bin ich da, wo ich mich gerade befinde, glücklich und zufrieden? Wie bin ich hierhergekommen? Befinde ich mich noch auf meinem Weg? Und falls nicht, wann und wieso bin ich vom Weg abgekommen?
Ulrich Tukur: „Der Ursprung der Welt“
Dieser knapp 300 Seiten starke Roman bietet eine höchst verstörende Lektüre. Zunächst zum Titel: „Der Ursprung der Welt“, das titelgebende Gemälde von Courbet, zeigt einen weiblichen Torso; der Kopf des Gemäldes ist abgeschnitten, vielleicht um die Anonymität des Modells zu gewährleisten, vielleicht aus einem anderen Grund, man weiß es nicht, und es zeigt einen nackten weiblichen Torso: Das Zentrum des Gemälde wird von der Vulva mit Haaren und allen Details dominiert. In seiner Offenheit und Detailtreue war dieses Gemälde seinerzeit ein Skandal, und selbst für den heutigen Betrachter stellt es — allerdings aus anderen Gründen, die mit den Limitationen unserer Zeit zu tun haben — eine Herausforderung dar.
Der Roman „Der Ursprung der Welt“, in dem dieses Gemälde eine zentrale Bedeutung spielt, erzählt die Geschichte von Paul Goullet, eines jungen Mannes aus gutem Hause, der dank einer großzügigen Apanage seines Onkels von der Last eines Brotberufes entbunden und vielleicht gerade deshalb auf der Suche nach einem sinnvollen Leben und nach sich selbst ist.
Michelle Richmond: „Der Pakt – Bis dass der Tod uns scheidet“
Ganz schön starker Tobak! Es fängt begrüßenswert an: Ein junges Paar erhält nach ihrer Hochzeit ein gut klingendes und edel präsentiertes Angebot. Den Eintritt in den Pakt. Ein Verbund von Paaren auf aller Welt die alle ihre Ehe ideal erhalten wollen. Glücklich und lebendig. Dafür gilt es Regeln einzuhalten, die durchaus klug erscheinen und die man im Alltag auch gerne mal vergisst.
Beispielsweise kleine Geschenke zu machen, regelmäßig etwas Schönes unternehmen, zusammen verreisen usw. Warum also nicht!? Das klingt alles gut und kann nur der Ehe dienen. Da lässt sich auch beim Lesen nachdenken, ob das Eine oder Andere nicht auch in der eigenen Ehe noch aufpoliert werden könnte.
Im ersten Kapitel, im Grunde auf der ersten Seite, kommt bereits die Ahnung auf, es könne nicht ganz so einfach sein. Aber es scheint glimpflich abgegangen zu sein und so erleben wir mit, wie sich Alice und Jake entwickeln. Als Ehepaar, als eigenständige Menschen, die sie immer bleiben wollen.
Sonia Velton: „Die Frau im Seidenkleid“
Die Geschichte spielt im 18. Jahrhundert in einem Teil vom damaligen London: Spitalfields. Es existiert noch heute, nur anders. Aber die Geschichte wird von einigen Fakten getragen und ist angelehnt an eine reale Figur.
Nur handelt es sich um eine Frau. Und die waren damals wenig wert, hatten kein eigenes Leben zu führen. Und doch versucht es Esther. Die Ehefrau eines hugenottischen Seidenwebers. In ihrem privilegierten Leben schaut sie auch nach unteren Schichten, hilfebedürftigen Menschen.
So ergab sich die Rettung eines Mädchens aus dem Hurenhaus – Sara. Sie hatte sich in ihr Schicksal ergeben. Der Weg in ein normales Leben wurde ihr mit vielen Tricks versperrt. Durch einen Zufall kommt sie in den Haushalt von Esther als Hilfskraft die sich geschickt hocharbeitet.
Daniel Glattauer: „Gut gegen Nordwind“
Unglaublich, wie zufällig das Leben spielt. Und wie komplex so mancher Schriftsteller verschiedene Standpunkte einnehmen und vereinen kann.
Es beginnt mit einer falsch adressierten Mail. So etwas passiert, und bestimmt hat schon manch einer einmal Ähnliches erlebt. Es folgt eine Entschuldigung oder Erklärung, Gegenantwort, gut.
Das daraus eine packende Geschichte entstehen kann, die den Leser fesselt, ist schon eine Leistung.
Frances Hodgson Burnett: „Das Herz einer Lady“
Frances Hodgson Burnett ist die Autorin des Klassikers „Der kleine Lord“. Und dies hier nur eines von über 50 Büchern. Wozu auch „Der geheime Garten“ und viele Kinderbücher gehören. Deshalb nahm ich es in die Hand.
Und entgegen der Befürchtung einer Schmonzette ergab sich ein schönes Leseerlebnis. Zumal Sprache auch interessant und schön sein kann. Das Buch spielt in einer ganz anderen Zeit, so taucht der Leser ab.
Emily Fox-Seton ist eine Frau bester Erziehung und Standes.
Ein Roman aus der seit 2011 bestehenden Reihe um den Rechtsanwalt Pal Palushi und der nun privaten Ermittlerin und Freundin Jasmin Meyer. Auch ohne dies gewusst zu haben, liest sich der Krimi von der ersten Seite an spannend.
Eine Millionärstochter wurde auf ungewöhnliche Weise entführt. Der Rechtsanwalt ist an sein Anwaltsgeheimnis gebunden. Seine Persönlichkeit gibt keine schrägen Dinge frei. Dennoch muss er Wege finden zu dem Finden und Retten der entführten Studentin, als er zufällig an Informationen gelangt.
Der Weg dahin war schon schwierig und durch viel Feingefühl und mehr Arbeit und Sorge, als sich ein Pflichtverteidiger auferlegen müsste, erfolgreich.
Daniel Defoe: „Robinson Crusoe“
An Robinson Crusoe kommt niemand vorbei. Die Geschichte des Schiffbrüchigen, der sich auf einer (fast) einsamen Insel nach und nach seine eigene kleine Welt aufbaut, dürfte jeder von uns als Kind oder Jugendlicher gelesen haben. Defoes „Robinson“ gehört zum festen Kanon der Kinder- und Jugendliteratur, wie „Die Schatzinsel“, „In 80 Tagen um die Welt“, „Die Reise zum Mittelpunkt der Erde“ oder „Huckleberry Finn“.
Man kann diesen Roman lesen wie eine Abenteuergeschichte; aber man kann ihn auch als Erwachsener aus seinem kultur- und geistesgeschichtlichen Kontext heraus lesen.
Daisy Miller ist eine junge unverheiratete, aber sehr hübsche Amerikanerin, die mit ihrer Mutter und einem geschniegelten Reiseführer mit bestem Benehmen namens Eugenio durch Europa reist. Wir befinden uns zeitlich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und bewegen uns in den besten Kreisen zwischen gehobenem Bürgertum und Adel, also in jener obersten gesellschaftlichen Schicht, die ihre Exklusivität durch die penible Einhaltung von Verhaltensnormen zu bestätigen sucht und sehr viel Wert auf ihre herausragende Sonderstellung im Angesicht des gesellschaftlichen Nebeneinanders legt.
Um es kurz zu machen: Daisy Miller und ihre Familie gehört dem zu jener Zeit besonders schnell wachsenden Stand der Neureichen an; ihr Vater ist ein sehr erfolgreicher Unternehmer, und die Familie lebt in Schenectady, einer Stadt im Bundesstaat New York, die besonders vom Fortschritt der Industriellen Revolution profitiert hat.
Christian Tielmann: „Unsterblichkeit ist auch keine Lösung – Ein Goethe-Schiller-Desaster“
Goethe und Schiller müssen wieder ran. Die Deutschen lesen immer weniger, schon gar nicht die Klassiker. Die Umsatzzahlen brechen ein, so darf es nicht weitergehen. Ihr Verleger Cotta greift tief in die Marketing-Kiste und organisiert eine gemeine Lesereise durch den Harz. Krönender Höhepunkt wird eine Lesung des kompletten Faust auf dem Brocken sein.
Es wird eine Tour de Force, die beide Klassiker bis aufs Letzte fordern wird. Am Ende gibt es einen Todesfall, doch was soll’s?! Unsterblichkeit ist schließlich auch keine Lösung. Goethe und Schiller müssen sich endlich wieder an den Zeitgeist annähern. Dass das gar nicht so leicht ist und mitunter skurrile Formen annehmen kann, ist klar. Davon lebt der Text ebenso wie von den Konflikten, die beim Aufeinanderprallen von Gegenwart und Klassik unweigerlich immer wieder entstehen.
In der Beschreibung verspricht dieser Roman auf unaufgeregte Weise mit Humor die Verarbeitung von Trauer. Das machte neugierig, obwohl es auch aus persönlichem aktuellem Anlass piekte. Es gibt nicht auf alles Antworten, und wie kann man jemanden nach einem schrecklichen Verlust beistehen.
Und es stimmt! Das schafft der Roman und einiges mehr. Lena ist die Freundin, Lebensgefährtin von Kurt — dem Großen sozusagen, denn er hat einen kleinen Jungen gleichen Namens.
Der Leser ist Teilnehmer eines stinknormalen Alltags. Möglicherweise einer Familie, die nicht ist, wie man es selber gut findet — aber jeder ist anders. Und die Sogwirkung der Geschichte beginnt schon auf diesen ersten Seiten. Während noch die Nase gerümpft ist ob der Umgebung und des arg lässigen Umgangs miteinander, ist der Drang weiterzulesen stärker als die Dünkel.
Jewgeni Wodolaskin: „Luftgänger“
Die Ausgangssituation kennt man so oder ähnlich aus unzähligen Romanen und Filmen: Ein Mann wacht in einem Krankenhaus-Bett auf und hat sein Gedächtnis verloren, kann sich an nichts erinnern: nicht an seinen Unfall, nicht an seinen Namen, seine Freunde, sein Leben. Die Vergangenheit ist wie ausgelöscht.
Was aus einer gewissen Perspektive für manchen verlockend klingen mag — das Vergangene ist ausradiert und man könnte wieder bei Null beginnen —, wird in Wirklichkeit für die meisten Betroffenen zum Höllentrip. Wenn alle Erinnerungen verloren sind, hat man dann wirklich gelebt?
Der Ich-Erzähler dieses Romans versucht mit Hilfe eines Notizbuchs, welches ihm der Arzt gibt, seine Erinnerungen aufzuschreiben und zu sortieren. Im Bett liegend, weil er zu schwach zum Aufstehen ist, beginnt er seine Puzzle-Arbeit und schreibt nach und nach auf, was ihm einfällt.
Krischan Koch: „Mörder mögen keine Matjes“
Hallo, Fredenbüll! Da sind sie wieder, die Bekannten. Ein Container mit Elektroschrott samt Leiche und Giftmüll wird vor Fredenbüll angeschwemmt. Ein Äffchen ist auch dabei. Und die Finder sind Tadje – die Tochter des POM Thies Detlefsen – und deren Freund Lasse.
Und dann fangen die Sprünge an. Das nächste Kapitel ist dann die bekannte Hidde Kist, in der die OP von Piet besprochen wird. Er liegt in Hamburg und wird vermisst. Dort findet Tadje dann endlich ihren Vater. Das Handy war mal wieder nicht erhört worden. Der Affe futtert sich auch mit Fischbrötchen durch und ist nebenbei ein Crack am Spielautomaten.
Elisabetta Lugli: „Der Buchladen der verlorenen Herzen“
Anna, Mitte 30, hat sich in ihrem Leben gut eingerichtet. Freund, Arbeit, Alltag – alles ist nach ihren Wünschen angelegt und geregelt. Nicht, dass sie wirklich zielstrebig oder gar ehrgeizig wäre. Sicher nicht. Sie mag es nur überschaubar und ordentlich, ohne große Überraschungen und auch nicht zu aufregend. So lässt sich einfach vor sich hin leben.
Bis das Leben dazwischen kommt. Überraschungen, Wendungen, und alles verändert sich. Der Leser ist die ganze Zeit dabei in einem schönen italienischen Bild mit Lebensart. Anna entscheidet sich von Mal zu Mal.
Denn zunächst beunruhigt sie ein alter Kontakt, den sie aus Anstand wieder aufnimmt. Was sie dabei erfährt, ist eine große Überraschung und lässt sie nicht mehr los. Es führt eines zum anderen und so begegnet sie auch ihrer ehemaligen großen Liebe wieder. Aufregende, schöne Zeiten. Dennoch wird viel in Frage gestellt.
Dana Newman: „You go me on the cookie! – Learning Deutsch“
Dana zieht von Florida nach Prag. Der erste Besuch in Deutschland ist aus bürokratischen Gründen notwendig und beschert ihr die Bekanntschaft mit ihrem späteren Mann: der Grund, warum sie nach Deutschland zieht und nach Jahren noch immer oder immer wieder mit der deutschen Sprache ringt.
Teilweise zum Schmunzeln, auch zum Lachen, aber in jedem Fall auch für deutsche Muttersprachler höchst interessant. Ein Blick von außen auf das ganz Normale ist erfrischend.
Sie sagt auf den ersten Seiten, es sei okay, einiges eben einfach auswendig zu lernen. Es hinzunehmen. Es ist eben so. Aber dann schlägt eben ihre eigene Art durch. Und die verlangt nach Erklärungen, Regeln oder bitte wenigstens Logik. Fehlanzeige. So gibt es immer wieder Barrieren, die es erschweren, sich einfach locker leicht mit Anderen zu unterhalten.
Sina Beerwald: „Hauptsache, der Baum brennt“
Das pralle Leben mit einer Prise Märchen und etwas Bildung!
Frau Christkind arbeitet beim sozialpsychiatrischen Dienst in München. Sie hat zwei pubertierende Kinder, einen Mann, der sich frisch verabschiedet hat zu einer anderen Frau, und ist noch vom Abend mit den Freundinnen im Restalkohol. Morgens um sechs ist ihre Welt nicht mehr in Ordnung. Denn es klingelt Sturm.
Der gutaussehende Mann im Weihnachtskostüm, der vor der Türe steht, behauptet, der Weihnachtsmann zu sein. Er hat soeben das Christkind abstürzen lassen vom Himmel und meint, sie sei die ideale Ersatzbesetzung.
Lukas Linder: „Der Letzte meiner Art“
Der Schweizer Dramatiker Lukas Linder hat für seine Arbeiten bereits mehrere Preise erhalten, unter anderem den begehrten Kleist-Preis. Lukas Linder ist ein Theatermann. Nun hat er sein Debüt als Romancier vorgelegt. Man merkt dem Debüt nicht an, dass es von einem Theatermann geschrieben wurde, und das ist sehr erfreulich, weil es nicht den Erwartungen entspricht.
Dramatik und Epik sind (neben der Lyrik) zwei literarische Gattungen, die seit der Antike in Konkurrenz zueinanderstanden. Was das eine Genre nicht leisten konnte, wurde dem anderen zugeschrieben. Die Form entscheidet nicht zuletzt darüber, wie erfolgreich eine Geschichte erzählt wird.
„Der letzte meiner Art“ ist die hübsche Familiengeschichte des jungen Alfred von Ärmel, der seinen Platz in der Familienchronik sucht.
Von einem Debütroman kann man begeistert sein; an dem Nachfolger, dem zweiten Roman, trennt sich oft schon die Spreu vom Weizen; jedoch spätestens bei dem dritten Buch sucht man nach Gemeinsamkeiten und charakteristischen Sujets; wenn man Glück hat, lässt sich ab diesem Punkt auch über die Jahre eine schriftstellerische Entwicklung herausarbeiten.
„Die Gesichter“ ist Tom Rachmans dritter Roman. Nach seinem fulminanten Erstling „Die Unperfekten“ (2010) und dem vielschichtigen und temporeichen zweiten Roman „Aufstieg und Fall großer Mächte“ (2014) sind die Erwartungen groß, die man an „Die Gesichter“ (Originaltitel: „The Italian Teacher“, 2018) stellt.
Diese Erwartungen werden nicht enttäuscht, ganz im Gegenteil!
„Der Matrose Martin Eden verliebt sich in die aus wohlhabendem Hause stammende Ruth. Um die gebildete junge Frau für sich zu gewinnen, wird er zum Autodidakten. Dabei entdeckt Martin seine Liebe zum Schreiben und beschließt, Schriftsteller zu werden. Aber für die Verwirklichung seines Traums muss er einen hohen Preis zahlen.“ — So steht es auf dem Klappentext der aktuellen Taschenbuchausgabe des Romans von Jack London, der jetzt von Lutz-W. Wolff neu übersetzt vorliegt.
Man kann die Geschichte des Martin Eden auf diese Weise zusammenfassen, aber natürlich ist dieses Herunterbrechen auf neun Zeilen Klappentext viel zu wenig und wird der Naturgewalt dieses Romans in keiner Weise gerecht. Jack London hat in diesem 1909 erschienenen Roman nicht nur sehr viel Autobiographisches eingearbeitet, sondern ein derart umfangreiches und tiefgehendes Werk geschaffen, das selbst mit den Etikettierungen „Bildungsroman“ oder „Entwicklungsroman“ nur unzureichend beschrieben ist.
Burghart Klaußner: „Vor dem Anfang“
Dieses Buch ist eine Zumutung! Kaum beginnt man mit dem Lesen, kann man nicht mehr aufhören! Berufliche Termine, familiäre Verabredungen, Essens- und Schlafenszeiten: kannste alles vergessen! Jetzt ist der Klaußner dran, und der schreibt als Schriftsteller so gut, wie er als Schauspieler schauspielert!
„Vor dem Anfang“ kommt das Ende. Aber das dauert. 172 Seiten lang muss man darauf warten, dass endlich der Zweite Weltkrieg in Berlin zu Ende geht. Auch das ist ziemlich nervenaufreibend. Wir lesen die Geschichte zweier Männer — Fritz und Schultz. Der eine hat Familie, der andere nicht. Der eine will sich verstecken, der andere natürlich auch, aber der weiß nicht, wo. Fritz hingegen weiß genau, wo er untertauchen kann, bis dieser verrückte Krieg endlich zu Ende ist. Kann ja nicht mehr lange dauern. Ist alles in Auflösung. Aber umso gefährlicher ist es, sich draußen zu zeigen. Überall lauern die Kettenhunde der Feldgendarmerie, und die machen schnell kurzen Prozess.
Rebecca Fleet: „Das andere Haus“
Ziemlich nervenzerfetzend angekündigt: „Dieser Haustausch wird teuer. Bezahlt wird mit dem Leben.“ Auch der Text der Beschreibung macht Lust auf Spannung total.
Ein Paar – Caroline und Francis – hat die Möglichkeit zum Haustausch und kommt in ein Haus mit unguter Atmosphäre. Die Kleinigkeiten, die die beiden dann sehen — und nur Caroline kann sie wirklich einordnen — sind besorgniserregend. Die Buchklappe sagt „… jemand will sie terrorisieren …“, das scheint denn doch zu hoch gegriffen.
Aber ich greife vor. Die ersten beiden Seiten bauen sehr gut Spannung auf. Unklar, wer da denkt, aber es verheißt die Eröffnung eines spannungsreichen Spieles. Was dann folgt ist eine Geduldsprobe für den Leser.
Hilmar Klute: „Was dann nachher so schön fliegt“
Wäre man nicht durch die Presseinformation darüber informiert worden, würde man nicht auf die Idee kommen, dass es sich bei diesem Roman um ein Debüt handelt. Hilmar Klute schreibt derart routiniert und hat einen unglaublich dichten und opulent mit Details ausgeschmückten Erstling hingelegt, dass man zurecht das Attribut „fulminant“ in den Mund nehmen darf, um diesen Roman mit einem Wort zu beschreiben.
„Was dann nachher so schön fliegt“ erzählt aus der Ich-Perspektive einer homodiegetischen Erzählinstanz in einer sich kapitelweise abwechselnden Parallelkomposition die Erlebnisse des 20-jährigen Volker Winterberg im Jahr 1986. Als Zivildienstleistender arbeitet er in einem Altenheim im Ruhrpott und als Literaturdienstleistender reist er nach Berlin zu einer Veranstaltung mit jungen Autoren, die vom Literaturhaus in der Fasanenstraße ausgerichtet wird.
Wir schreiben das Jahr 1986, der Fall der Mauer steht noch nicht auf dem Plan, Berlin ist noch West-Berlin, jenes „Bundesbiotop“ für alle Gestrandeten und Untergetauchten, für Wehrdienstverweigerer und Lebenskünstler, für Träumer und Spinner aller Art.
Krischan Koch: „Pannfisch für den Paten“
Ein Küsten-Krimi. Einer von vielen? Mitnichten! Die Abenteuer, die Krischan Koch aus Fredenbüll — einem winzigen Dorf hinterm Deich an der Nordsee — berichtet haben es in sich.
Man glaubt gar nicht, was in solch einem kleinen Nest passieren kann! Wie gut, dort einen fähigen Dorfpolizisten — pardon: Polizeiobermeister — Thies Detlefsen zu haben. Er bildet sich immer fort, ist theoretisch bestens vorbereitet. Da kann man gerne den ratlosen Kuhblick bzw. die beinahe immer vergessene Dienstwaffe verzeihen.
Dafür hat er schließlich in brisanten Fällen — und die gibt es in jedem der Bücher! — seine Kollegin, die Kieler Kommissarin Nicole Stappenbek, samt Team dabei. Gemeinsam kommt man jedem Betrüger, Einbrecher, Erpresser, Geißelnehmer und Mörder auf die Spur. In diesem Buch sogar einem Paten und dem Abgeordneten eines anderen Clans.
Ljuba Arnautović: „Im Verborgenen“
Es gibt Geschichten, die berühren das Herz des Lesers, weil sie sich, anders als andere Geschichten, vorbei an allen Wegmarkierungen und sich allen kategorialen Einordnungen widersetzend, einen Weg bahnen durch die gängigen Abwehrmechanismen einer routinemäßigen Lektüre.
Ein solcher Ausbruch aus den Routinen gelingt einer Geschichte, die unsere Neugier weckt, weil sie ungewöhnlich ist und den Leser mit unbekannten historischen Zusammenhängen oder neuen Perspektiven in Berührung bringt, die ihm bislang verschlossen geblieben sind.
Die Autorin erzählt die Geschichte ihrer eigenen Familie über mehrere Generationen, wobei sie am Ende des Romans anmerkt, dass diese Geschichte zwar auf wahren Begebnissen beruht, jedoch nicht als eine „strenge Wiedergabe realer Personen, Orte, Zeitabläufe oder Ereignisse“ verstanden werden will.
Klaus-Peter Wolf: „Totentanz am Strand – Sommerfeldt kehrt zurück“
Dr. Bernhard Sommerfeldt in Ostfriesland – viel geachtet und auf viele Arten geliebt. Aufgrund seines persönlichen Gerechtigkeitsempfindens mussten einige Menschen ihr Leben lassen. Die Gedanken dazu und die Vorgehensweisen waren interessant und teils auch zum Schmunzeln. Ein Mann von Ehre. Belesen, intelligent, auf seine Lebensgefährtin konzentriert, sportlich und vieles Gute mehr.
Leider – er war gar kein Arzt. Hieß auch nicht wie vorgegeben. Flog auf. Und ergriff clever die Flucht. Der Leser wartete gespannt auf seinen weiteren Lebensweg. Der kam nun im Juli 2018 ans Tageslicht.
Herr Rudolf Ditzen taucht in Gelsenkirchen auf. Künstlertyp, Spitzbart. Radfahren ist noch immer ein Bedürfnis, wird aber eher am Rande als Hobby betrieben. Er liest noch immer gerne. In diesem Buch gibt es jedoch wenige literarische Hinweise oder Zitate. Ein paar Liederzeilen, Gedichtzeilen – das war es.
„Wie sieht es jetzt in Deutschland aus?“ fragte sich Vicki Baum in ihrem kalifornischen Exil bereits 1943, als die Amerikaner in Sizilien landeten. Gestützt auf Informationen aus den unterschiedlichsten Quellen, aus Augenzeugen-Berichten und Zeitungsmeldungen formte sich beim Schreiben dieses Romans eine imaginierte Welt ihrer deutschen Heimat in Zeiten des totalen Krieges.
Kurz zuvor, im Februar desselben Jahres endete die Schlacht um Stalingrad für die deutschen Truppen mit einer vernichtenden Niederlage, und spätestens jetzt musste jedem Normaldenkenden klar geworden sein, dass die deutsche Expansionsbewegung zu ihrem Ende gekommen war und der Krieg früher oder später verloren sein würde.
„Was denken, fühlen, fürchten und hoffen die Deutschen in einem Augenblick, da schon die ganze Welt das Menetekel an der Wand lesen kann?“ fragte sie sich weiter und begann zu schreiben.
Ach, was sind sie hübsch, diese neuen kleinen Bücher mit festem Einband aus der Manesse-Reihe! Der Manesse-Verlag steht seit jeher für höchste Qualität, die kleinen Bücher der „Manesse Bibliothek der Weltliteratur“ kennt jeder, der Bücher liebt. Nun sind einige Titel in neuem Gewand auf den Markt gekommen — Kafkas Schloss, Cocteaus Thomas der Schwindler oder auch Swifts Gullivers Reisen — mit ansprechender grafischer Gestaltung der Schutzumschläge und gesetzt in einer besser lesbaren Schrifttype.
Die Manesse-Bibliothek macht Lust aufs Lesen. Diese kleinen bibliophilen Meisterwerke (natürlich mit Lesebändchen!) sind stabil genug, um sie immer dabei zu haben. Kafkas „Schloss“ ist zwar mit seinen 600 Seiten etwas zu dick für die Hemdtasche, aber in die Jacke passt es allemal. Wenn es runterfällt, fällt es nicht gleich auseinander, und es verträgt auch mehrere Lektüre-Durchgänge ohne große Beschädigungen. Also ideale Voraussetzungen für eine Studienausgabe!
Robert Walser: „Der Spaziergang“
Robert Walsers Spaziergang ist eine seltsame und verstörende Erzählung. Was beschrieben wird, ist kein Spaziergang, sondern eine Aufeinanderfolge von Begegnungen, imaginierten wie scheinbar realen.
Verstörend ist an diesem Text zunächst seine Entstehungszeit. 1913 war Robert Walser nach einigen Jahren in Berlin wieder in seine Geburtsstadt Biel in der Schweiz zurückgekehrt. Nachdem 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, machte auch die Schweiz mobil. Auch Walser wurde einberufen und dem Landwehrbataillon 134 zugeteilt. Mehrere Monate im Jahr musste er fortan in entlegenen Bergregionen seinen Dienst antreten. In den Pausen entstand 1916 dieser Spaziergang.
Wladimir Kaminer: „Ausgerechnet Deutschland — Geschichten unserer neuen Nachbarn“
Wenn es so etwas wie ein gemeinsames kulturelles Gedächtnis gibt, so hat sich Wladimir Kaminer längst darin eingeschrieben. Seine amüsanten Geschichten von alltäglicher Skurrilität gehören mittlerweile zum Kanon der deutschsprachigen literarischen Satire.
Wie der geniale Altmeister Max Goldt, so kann auch Wladimir Kaminer schreiben, worüber er will: Immer schlägt in diesen Texten jenes große russische Herz und zeigt sich in seinen Geschichten jener tiefe und warme Blick auf die Menschen, den vielleicht nur jemand so haben kann, wenn er in zwei Kulturen zuhause ist und so stets die eine mit der anderen vergleichen kann.
Im Grunde könnte Kaminer über alles Mögliche schreiben: über einen Topflappen-Sammler, einen Einbauküchen-Katalog, eine Hamsterzucht-Ausstellung oder die schönsten Mikrowellen-Rezepte Abchasiens.
Klaus Modick: „Keyserlings Geheimnis“
Eduard Graf von Keyserling wurde 1855 in Tels-Paddern in Kurland, dem heutigen Lettland geboren und starb Ende September 1918 in München. Keyserling litt seit vielen Jahren unter einem Rückenmarksleiden, das in seinen letzten Jahren zu einer vollständigen Erblindung und letztlich zum Tod führte. Ob diese Krankheit in einer überwundenen maladie francaise (Syphilis) ihren Anfang nahm oder andere Ursachen hat, bleibt im Dunkel seiner Biografie.
Dunkel bleibt in Keyserlings Biografie vieles, denn der Künstler hatte in seinem Testament verfügt, dass seine privaten Aufzeichnungen nach seinem Tod vollständig vernichtet werden sollten. Deshalb öffnet sich ein weiter Raum für Spekulationen.
Ein Thriller der Extraklasse! Von der ersten Seite an fiebert man mit und taucht ein in das Geschehen, welches sehr realistisch geschildert wird.
Es geschehen innerhalb weniger Stunden vier Flugzeugabstürze an verschiedenen Ecken der Welt. Drei Kinder insgesamt überleben, möglicherweise sogar vier. Und alle sind plötzlich eigenartig.
Viel Raum für Spekulationen, Mystery, Spannung, Verschwörung und Geschäfte!
Claudia Winter: „Die Wolkenfischerin“
Contenance ist alles! So lebt Claire — eine echte Pariserin mit hervorragenden Referenzen — in Berlin als Leiterin des Ressorts Lifestyle bei einem Berliner Gourmet Magazin. Sie hat eine noble Adresse und träumt von mehr Kunst und Kultur in ihrem Aufgabengebiet.
Ihre Art hat sie von ihrer Tante in Paris gelernt, wie so vieles mehr. Damit hat sie Erfolg. So wird hier flüssig und leicht ihre Geschichte erzählt. Von Kinderzeiten an, damit der Leser schon einmal eine Orientierung hat. Über die Jugend, die sie sich in Paris erkämpft hat. Und zu der jungen Frau, die erfolgreich und angesehen in Berlin lebt, bis alles auf dem Kopf steht.
Turbulent wird es, als ihre Vergangenheit sie einholt. Sie daran erinnert, immer noch das Mädchen aus der Bretagne zu sein.
Effi Biedrzynski (Hg.): „Das große deutsche Novellenbuch“
Wunderbar! Wir haben den Fernseher verkauft, gehen nicht mehr ans Telefon, sondern versammeln uns fortan allabendlich im Wohnzimmer, setzen uns im Kreis in die Nähe des knisternden Kamins, und Opa, gemütlich in seinem Lehnstuhl sitzend, greift zu dem dicken Buch, schaut ins Inhaltsverzeichnis, zögert nur einen kleinen Augenblick und schlägt dann eine Seite auf und beginnt zu lesen.
Natürlich ist diese Geschichte nicht ganz wahr, aber so könnte es sich wirklich zutragen, wenn man diesen ansprechenden dicken Ziegelstein aus dem Anaconda-Verlag vor sich auf dem Tisch liegen sieht: Das große deutsche Novellenbuch, herausgegeben von Effi Biedrzynski. — Effi? Sofort denkt man an Fontanes bekanntesten Roman, aber nein: Hier geht es um Novellen und nicht um Romane.
Peter Stamm: „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“
Das Motiv des Doppelgängers ist in der Literatur recht weit verbreitet. In Jean Pauls Siebenkäs, in den Elixieren des Teufels von E. T. A. Hoffmann oder in Erzählungen von Theodor Storm und in der Judenbuche von Annette Droste-Hülshoff haben wir es mit Doppelgängern zu tun. Wirft man einen Blick auf die englischsprachige Literatur, so fallen Namen wie Robert Louis Stevenson, Edgar Allen Poe oder natürlich Oscar Wilde mit seinem Bildnis des Dorian Gray.
In Peter Stamms neuem Roman haben wir es auch mit einem Doppelgänger zu tun, allerdings mit einem Doppelgänger der besonderen Art. Vor sechzehn Jahren hat der Ich-Erzähler einen Roman geschrieben über seine zerbrochene Liebe zu Magdalena. Es wurde sein erster und einziger Roman, denn danach gab es nichts mehr, worüber sich zu schreiben lohnte.
Ulrich Alexander Boschwitz: „Der Reisende“
Dieser Roman ist eine echte Wiederentdeckung. Das Typoskript hat der damals 23-jährige Ulrich Alexander Boschwitz im englischen Exil verfasst, kurz nach dem Ausbruch der Novemberpogrome in Deutschland.
Das kurze Leben des Autors ist schnell erzählt: Er wurde 1915 in Berlin geboren und emigrierte bereits 1935 nach Schweden, später nach Norwegen, Frankreich, Luxemburg und Belgien. 1939 ging er nach England, wo er als deutschstämmiger Flüchtling kurz vor Kriegsbeginn interniert und später nach Australen verbracht wurde. Nach seiner Freilassung 1942 wurde sein Schiff auf der Rückfahrt nach England kurz vor der Ankunft von einem deutschen U-Boot versenkt.
Susan Bishop Crispell: „Brombeerwünsche“
Rachel kann Wünsche wahr werden lassen. Das klingt gut, ist aber eine große Verantwortung. Und geht auch gelegentlich schief. Ihre beste Freundin weiß davon, wie alles andere auch. Deren Tochter ist das Patenkind. Und als die sich in einer Überrumpelung ein Einhorn wünscht, ist das einer der Momente, in denen es nicht gut für Rachel läuft.
Das Pony mit einer Waffel als Einhorn gibt ihr den Rest und sie packt ihre Koffer. Flüchtet und will somit die Menschen, die sie liebt schützen vor sich selbst. Dabei erfährt der Leser auch den Beginn einer Geschichte in der Geschichte. Die ihrer Familie, ihres Bruders. Den sie sich weg wünschte…
Ihr Auto streikt im aufziehenden Gewitter in einem Dorf im Nirgendwo. Es heißt auch Nowhere. Könnte man auch Now here lesen denn es trifft. Sie bleibt dort. Teils freiwillig, teils auf nicht greifbare Weise, die sie selber überrascht.
Frances Maynard: „Wie Ellie Carr zu leben lernt“
Elvira Carr, genannt Ellie, lebt schon lange, seit siebenundzwanzig Jahren. Und ganz gut. Sie weiß es nur noch nicht. Und es sind die Regeln der Gesellschaft, die es zu verstehen und erlernen gilt. Sie ist ein wandelndes Lexikon in Sachen Kekse. Unglaublich, was man darüber wissen kann, wenn man will. Auch über ihre Lieblingsserien weiß sie eine Menge und lernt daraus auch eine Menge fürs Leben.
Ansonsten hält sie sich an ihre Mutter. Die weiß immer alles, sagt wie man was zu machen hat. Denn Ellie ist Autistin. Also, laut Mutter, eine Belastung. Dennoch hat sie sehr viel von ihr gelernt und macht ihre Aufgaben gründlich.
Die Aussagen bringt sie auf den Punkt. Was beim Leser für manch heiteren Moment sorgt. Deckt es doch Konventionen auf, die niemand hinterfragt. Oder regt Gedanken an, wie es denn wäre, die Sachen anders handzuhaben.
Fiona Davis: „Wovon sie träumten“
Die Idee ist spannend: Es geht um ein Gebäude in New York. Das Barbizon. In diesem wohnen im Jahre 2016 ganz normale Leute in Eigentumswohnungen. Und in einer Etage die Langzeitmieterinnen — Damen, die bereits im Haus wohnten, als es ein Hotel für Frauen war, 1952.
Die Hauptfiguren sind vor allem Rose in der Neuzeit und Darby aus der Vergangenheit und in der Neuzeit. Beide Damen lernen sich per Zufall kennen. Was zu viel gesagt ist, denn sie lernen sich erst Ende des Buches etwas kennen. Rose ist bei einer Zeitschrift tätig und die neue Lebensgefährtin eines politisch ambitionierten Mannes namens Griff. Der hat mit ihr in diesem Haus ein neues Leben begonnen. Und eingangs des Buches endet es auch schon wieder.
Im Zuge dessen braucht Rose eine neue Bleibe, und so kommt sie durch Zufall bei Darby während ihrer Abwesenheit unter. Einen Auftrieb im Job braucht sie auch und natürlich Geld. Also beschließt sie aus den Fragmenten der Geschichte, die der Portier über die ehemaligen Mieterinnen und Miss Darby erzählt, eine Story zu machen.
Leander Steinkopf: „Stadt der Feen und Wünsche“
Leander Steinkopf ist vielleicht einer der letzten Flaneure, die unsere atemlose Zeit noch kennt. Er schlendert ziellos durch die Stadt, getrieben von seinem Ennui, absichtslos und ohne Hoffnung. Es ist die Odyssee eines Stadtwanderers unserer Zeit. Seinem Bericht vorangestellt hat er ein Zitat von Walter Benjamin aus dessen Berliner Kindheit um 1900. Dort schreibt Benjamin: „Die Fee, bei der er einen Wunsch frei hat, gibt es für jeden. Allein nur wenige wissen sich des Wunsches zu entsinnen, den sie taten; nur wenig erkennen darum später im eigenen Leben die Erfüllung wieder.“
Dem Ich-Erzähler dieser Erzählung — ist es der Autor selbst oder sein Alter Ego? — begegnet keine Fee, und falls doch, so erkennt er sie nicht. Er erwartet auch keine Fee, und er hat auch keine Wünsche. Der Erzähler geht durch das heutige Berlin und er beschreibt, was er sieht: „Zu Hause erinnert mich alles an mich selbst, jede Wand reflektiert meine Blicke. Deshalb gehe ich raus, spazieren. Ich schaue mich um nach allem, weil ich nichts Bestimmtes suche. Ich fühle mich zur Langsamkeit gedrängt wie andere zur Eile. Man muss seine Zeit verschwenden, um zu lernen, was sie wert ist.“
Ayelet Waldman, Michael Chabon (Hg.): „Oliven und Asche — Schriftstellerinnen und Schriftsteller berichten über die israelische Besatzung in Palästina“
In den vergangenen Jahren haben der Bürgerkrieg in Syrien und die aus ihm resultierenden Migrationsbewegungen in Richtung Deutschland einen anderen Krisenherd der Region in den Hintergrund gerückt: die Spannungen zwischen Israel und seinen Nachbarn — und ganz besonders die Problematik der israelischen Besatzung Palästinas.
Dieser seit Jahrzehnten schwelende Konflikt zwischen Israel und seinen Anrainern ist für Außenstehende schwer zu fassen. Wie lebt man unter einer fremden Besatzung? Wie kann man sich mit einer Besatzungsmacht arrangieren, die in den Bürgern des besetzten Landes keine Menschen, sondern immer nur Andersgläubige sieht?
Im Verlag Kiepenheuer & Witsch ist nun ein Sammelband mit kurzen Texten erschienen, die sich auf die eine oder andere Weise mit dieser palästinensischen Realität auseinandersetzen und ihre jeweilige Sichtweisen auf diesen permanenten Konflikt in eine fiktive Diskussion des Problems einbringen.
Johann Gottfried Seume: „Mein Leben“
Eigentlich wollte er nie seine Autobiographie schreiben, zumindest nicht, bevor er nicht achtzig Jahre alt wäre. Er hielt sich einfach nicht für wichtig genug. Aber er hatte ein Leben gelebt, wie es am Ende des 18. Jahrhunderts kaum aufregender hätte sein könnte: aufgewachsen als Bauernsohn, studierte er zunächst in Leipzig Theologie, bis er sich 1781 heimlich auf den Weg nach Frankreich machte. Unterwegs wurde er von hessischen Werbern rekrutiert und an die Engländer verkauft, als Kanonenfutter für den Krieg in Nordamerika. Als Unteroffizier kehrte der am Fuß verletzte Soldat 1783 aus Kanada zurück und desertierte.
Schließlich hatte Johann Gottfried Seume dann doch noch seine Lebensgeschichte aufgeschrieben, als er bereits schwer krank war und merkte, dass er nicht mehr lange leben würde. Es ist ein relativ kurzes Manuskript, das die Geschichte eines Lebensreisenden erzählt, wie sie kaum spannender sein könnte. Weil sein erster Verleger Georg Joachim Göschen Angst vor der Zensur hatte, wurde der Text vor der Veröffentlichung noch einmal stark bereinigt und gekürzt; allzu freizügige Passagen wurden gestrichen.
Olga Rinke wird in der Kaiserzeit geboren, wächst im Breslau des späten 19. Jahrhunderts in einem armen Umfeld auf, verliert schon in jungen Jahren beide Eltern, die an Fleckfieber erkranken, und wird von der Großmutter in einem Dorf in Pommern aufgezogen; die Großmutter findet, dass Olga einen slawischen Einschlag habe, und sie liebt das Mädchen nicht, sondern behandelt es schlecht. Doch Olga ist ehrgeizig, will mehr erreichen als die anderen Kinder, und sie schafft es, dass sie an der Höheren Mädchenschule aufgenommen wird; später gelingt ihr sogar der Sprung in das staatliche Lehrerinnenseminar in Posen. Sie wird Lehrerin und bleibt in der Provinz, erst in dem kleinen Dorf in Pommern und später in der Nähe von Tilsit im Memelland.
In dem pommerschen Dorf lebt auch Herbert, ein junger Bursche mit glänzenden Aussichten, denn der Vater besitzt einen Gutshof und eine Zuckerfabrik, die er einmal übernehmen soll. Doch Herbert hat andere Pläne, träumt von fernen Reisen und davon, dass er Bedeutungsvolles für die Menschheit leisten will.
Joachim Ringelnatz: „Wie ein Spatz am Alexanderplatz — Berliner Orte“
Mit Ringelnatz geht es mir immer so wie mit einem alten Bekannten: Man trifft ihn zufällig auf der Straße, seit Jahren hat man sich nicht gesehen, und doch hat man schon nach ein, zwei Sätzen wieder an die alte Verbundenheit angeschlossen, scherzt und lacht miteinander und verabredet sich spontan auf ein Bierchen am selben Abend. Vieles von Ringelnatz kennt man ja schon, schließlich gehören seine Gedichte mittlerweile zurecht zu den „Klassikern“…
In diesem schicken kleinen Büchlein, erschienen im be.bra-Verlag, geht es aber explizit um „Berliner Orte“, die in seinen Gedichten besungen werden. Geboren 1883 in Wurzen bei Leipzig, lebte er lange Zeit in München, jener „dümmsten Stadt der Welt“, wie es in einem seiner Gedichte heißt, bevor er dann 1930 nach mehreren kürzeren Aufenthalten endlich nach Berlin umzog.
Irène Kuhn: „Découvrir la France — Frankreich entdecken“
In diesem Jahr war Frankreich das Gastland der Frankfurter Buchmesse. Pünktlich zu diesem Anlass kam ein kleines Büchlein bei DTV heraus, dass zweisprachig dazu einlädt, Frankreich zu entdecken.
Irène Kuhn erzählt in ihm die kleine Geschichte von Katia und Pierre. Katia kommt das erste Mal nach Frankreich, um das Land, die Franzosen und ihre Gepflogenheiten — und vor allem ihren Brieffreund Pierre kennenzulernen. Was zunächst nach einem leichtfüßigen Drehbuch aus den 1950er Jahren klingt, beginnt im elsässischen Straßburg als eine mehrwöchige Tour de France, die die beiden Freunde nicht nur in Kontakt mit Bäckern, Tankwarten oder Kellnern, sondern auch die beiden einander näherbringt.
Robert Gernhardt: „Das große Lesebuch“
Man sagte mir neulich, dass es tatsächlich Leute geben soll, die Robert Gernhardt noch nicht kennen. Das kann ich nicht auf mir sitzen lassen, hier ist Entwicklungshilfe gefragt! Doch wo soll man anfangen? Welcher Zugang zu seinem Werk ist der richtige, der am besten geeignete?
Man macht sicherlich nichts verkehrt, wenn man sich hierfür eines jüngst erschienenen „großen Lesebuches“ bedient, welches in der schönen Taschenbuchreihe Fischer Klassik erhältlich ist. Dass es sich bei Robert Gernhardt um einen „Klassiker“ im besten Sinne handelt, steht außer Frage. Aber schauen wir jetzt einmal genauer hin: Was finden wir in diesem Lesebuch?
Der ganze Gernhardt, also die Gesamtausgabe, ist es natürlich nicht, auf den wartet die Welt ja noch. Im Deutschen Literaturarchiv in Marbach wird sein Werk verwahrt, das immerhin an die 40.000 Seiten umfasst inklusive aller Brunnenhefte, Skizzen, Notizen und allem Zipp und Zapp. — Also noch eine Menge Arbeit für Literaturwissenschaftler mit einem Sinn für Humor!
Robert Gernhardt: „Der kleine Gerhardt“
Der Kleine Pauly ist das Fachlexikon der Altertumswissenschaft, die kleine Version des großen Bruders, von Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, die durchgehend von 1893 bis 1978 erschien und ganze Regalwände füllt. Mit einem leichten Schmunzeln mag Robert Gernhardt an diesen „kleinen Pauly“ gedacht haben, als er 2002 sein autobiographisches Projekt Der kleine Gernhardt in Angriff nahm.
Ausgehend von einer alphabetischen Sammlung von Begriffen baute er sich ein individuelles Gerüst für die Durchsicht seiner über viele Jahrzehnte in Brunnen-Schreibheften zusammengetragenen Notizen mit autobiographischer Färbung und Relevanz.
Robert Gernhardt starb Mitte 2006 an Krebs. Er konnte seinen Kleinen Gernhardt“ nicht vollenden, das Projekt blieb ein Fragment. Jetzt hat die Herausgeberin Andrea Stoll die bereits abgeschlossenen Einträge dieser Autobiographie durch weitere Notizen aus Gernhardts Brunnen-Heften ergänzt und vervollständigt.
Hanns-Josef Ortheil: „Der Stift und das Papier“
Der autobiographische Roman Der Stift und das Schreiben von Hanns-Josef Ortheil ist im besten Sinne ein Entwicklungsroman. In diesem Buch erzählt der Autor von seinem Weg zum Schreiben. Es ist kein leichter Weg gewesen. Als Ortheil kaum drei Jahre alt war, hörte er plötzlich auf zu sprechen. Er passte sich auf diese Weise dem Verhalten seiner Mutter an, die sich nach einer weiteren Fehlgeburt zurückzog und verstummte. Fortan wurde mit Hilfe von Zetteln kommuniziert — für über drei Jahre.
Wie die Welt für den kleinen Hanns-Josef ausgesehen haben muss, kann man sich nur schwer vorstellen. Sie bestand vor allem aus der klassischen Musik der väterlichen Plattensammlung, dem Klavierspiel der verstummten Mutter und den vielen Stimmen und den verwirrenden Sprachfetzen der Leute, die der kleine Junge auf der Straße aufnahm. Zuhause zieht er sich oft in seine eigene Welt und in seine eigene Sprache zurück; er gibt den Dinge Bezeichnungen, die nicht mit den „normalen“ Begriffen zusammenpassen.
Egyd Gstättner: „Wiener Fenstersturz“
Am Abend des 16. März 1938 stürzte sich der Wiener Schriftsteller und Kulturhistoriker Egon Friedell aus dem Fenster seiner Wohnung in der Gentzgasse 7, um sich der Verhaftung durch zwei SA-Männer zu entziehen, die in seine Wohnung eingedrungen waren. Er sprang in den Tod, allerdings nicht ohne zuvor die untenstehenden Passanten umsichtig durch den Zuruf „Treten Sie zur Seite!“ zu warnen.
Doch sprang er wirklich in den Tod? Nein. Ja. Doch nicht. Doch. — Die Meinungen gehen auseinander, und doch sind die Indizien eindeutig. Eindeutig tot. Begraben auf dem Wiener Zentralfriedhof, evangelischer Teil, Tor 3, und das Wohnhaus mit einer hübschen Gedenktafel versehen, wie sich das eben so gehört.
Doch der Klagenfurter Schriftsteller Egyd Gstättner erzählt da eine ganz andere Version der Geschichte, und wie er diese Geschichte erzählt, ist einfach und in mehrfacher Hinsicht wunderbar!
Telefoninterview mit Egyd Gstättner am 31.10.17 über seinen Roman „Wiener Fenstersturz“
Der Klagenfurter Schriftsteller Egyd Gstättner hat einen neuen Roman veröffentlicht, in dem er sich mit den letzten Sekunden im Leben des Wiener Kulturhistorikers und Schriftstellers Egon Friedell beschäftigt. Dieser Roman hat es in sich! Worum es geht und wie alles zusammenhängt, erzählt der Autor in unserem ausführlichen Gespräcch am 31.10.17.
Darüber hinaus gibt Egyd Gstättner einen tiefen Einblick in seine Arbeitsweise und in die verschiedenen Stadien seines Schreibprozesses.
Wladimir Kaminer: „Einige Dinge, die ich über meine Frau weiß“
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, wenn Sie Kaminer lesen. Es ist aber nicht unwahrscheinlich, dass es Ihnen genauso geht wie mir: Ich kann keinen Text von Wladimir Kaminer mehr lesen, ohne sogleich seine Stimme zu hören. Das kommt von der mehr oder weniger permanenten Medienpräsenz, die Kaminer seit Anfang der 1990er Jahren in Deutschland hat.
Wer ihn einmal gehört hat, wie er seine Texte liest, der wird diese Stimme nicht mehr los. Es ist ein Fluch und ein Segen zugleich. Nur mit allergrößter Anstrengung gelingt es dem Literaturkritiker, die Stimme im Kopf auszuschalten und den Text quasi „blanko“, eben als reinen Text ohne Stimme, zu nehmen und zu begutachten.
Diese anstrengende Analyse ergibt, dass sich Kaminers Texte mit einem Sound entfalten, der atmosphärisch gut in die 1950er oder 1960er Jahre passen würde. Alles klingt ein bisschen wie ein Remix aus Ephraim Kishon und Joachim Fernau. Mit anderen Worten: Es ist eine wunderbar leichte und beschwingte Lektüre, der Blick auf die Welt und ihre Alltäglichkeiten ist geprägt von einer abgrundtiefen Menschenliebe und einem Humor, der selbst noch im Tragischen das Komische zu sehen in der Lage ist.
Flake: „Die Welt hat heute Geburtstag“
Flake ist ein Mitglied der Gruppe Rammstein. Der mit den Glitzeranzügen und auf dem Laufband stehend im Hintergrund. Nicht so archaisch wie seine Kollegen. Und wahrscheinlich unterschätzt. Denn sein Keyboard ist wichtig.
Im Buch heißt es, er erzählt und wir dürfen zuhören. Das ist die exakte Beschreibung. Er erzählt ungefiltert (so scheint es) und mit einigen Abzweigungen in die Vergangenheit oder die Hintergründe einfach so vor sich hin. Maßgeblich vertreibt er sich mit der Aufschrift seiner Gedanken einfach die Wartezeit bis zum Auftritt.
Sympathische Grundstimmung entsteht. Es ist ein normaler Mensch mit nicht geradem Werdegang. Getrieben von seiner Leidenschaft, der Musik. Erwachsen geworden, angekommen und noch immer die kindliche Freude, das machen zu können, was ihm Spaß macht, und sogar mittlerweile davon leben zu können!
Anne Østby: „Zartbitter ist das Glück“
So etwas Aufregendes, Überraschendes und letztendlich auch Schönes wie einen Brief von einer alten Freundin sollte jeder bekommen: Eine Freundin schreibt ihren vier ehemaligen besten Freundinnen aus der Jugend überraschend eine Einladung — in einer liebevollen und wissenden Art, wie der Leser später feststellt.
Sie sind alle über 50 und haben, jede auf ihre Weise, einen wichtigen Abschnitt ihres Lebens hinter sich. Und nun kommt also ein Brief, der liebevoll auf die jeweilige Freundin und auf ihre Eigenarten eingeht oder auch Vermutungen anstellt: So zum Beispiel wird bei der einen ganz richtig unterstellt „…du hast dir sicher den Brief zunächst beiseitegelegt und dir eine Tasse Kaffee gemacht…“; oder es wird eine Vermutung geäußert: „…vielleicht ist das Leben mit dem Prinzen nicht immer märchenhaft…“. Die Formulierungen treffen immer. Und jeder Brief ist formuliert als eine vorsichtige Einladung. Als altmodischer Brief, denn er könnte ja verloren gehen und die Adressatin braucht nicht reagieren, er könnte ja gar nicht angekommen sein.
Letztendlich reagiert jede. Und kommt nach Fidschi! Um mit Kat, der Absenderin, zusammen zu schauen, was noch im Leben steckt. Dabei macht jede ihre eigenen Erfahrungen und wächst am Ende über die eigenen Grenzen hinaus. Im positiven Sinne, denn es werden nur die Persönlichkeiten erweitert. Sie erfahren mehr in dieser fremden Kultur über sich und andere Menschen.
Ein Kriminalroman mit Spannung und Schmunzeln. Dr. Huff ist ein verschrobener Dozent in Cambridge. Umgeben von einigen skurrilen Charakteren, die ihre Geheimnisse haben. Nach einem Unglücksfall, der eventuell ein Mord war, bekommt er einen Vogel. Den des Opfers, einen Graupapagei. Der Vogel hat seinen Seelenverwandten erkannt und als neues Herrchen ausgesucht.
Zwar ist Gray ziemlich vorlaut und kann oft in unpassenden Momenten einfach nicht den Schnabel halten, doch er stellt die richtigen Fragen. So motiviert er Dr. Huff zum Handeln, und beide machen sich auf die Suche nach Wahrheiten.
Im Verlauf kommen einige Dinge ans Licht. So war der Verstorbene kein netter Mensch, und es gibt einige Mitmenschen, die ihm nicht nachweinen. Auch in der Familie liegt einiges im Argen.
Gayle Forman: „Manchml musst Du einfach leben“
Zu viel zu tun; nicht wissen, woher Kraft und Zeit kommen sollen, allen Ansprüchen genügen wollen und doch immer hinterherhinken – das ist Überforderung. Kennt jeder, nicht nur Frauen. Aber diese übernehmen ganz gerne noch soziale Aufgaben, das Pflegen der Beziehungen, der Familie usw. Oft aber auch nur im Gedanken, es klappe sowieso nicht so gut oder so, wie es aus eigener Sicht am besten wäre, wenn sie es nicht selber machen.
In dieser Falle sitzt Maribeth Klein, eine New Yorker Mutter, Arbeitnehmerin und Ehefrau die alles zur vollsten Zufriedenheit aller bewältigen will. Der sich ankündigende Herzinfarkt wird als Sodbrennen, Kopfschmerzen eingeschätzt und am liebsten ignoriert. Erst eine auch noch zu erledigende Untersuchung bei einem Facharzt ergibt den Verdacht darauf und die sofortige Einweisung in die Klinik.
Ende April 1945. Der junge deutsch-amerikanische Offizier Michael Hansen kommt in der allerletzten Kriegsphase von Frankreich nach Deutschland. Sein Spezialauftrag ist die Sichtung der Unterlagen des 1940 verstorbenen Rassentheoretikers Alfred Ploetz sowie die Befragung von Zeitzeugen und Mitarbeitern. In einem Münchner Antiquariat findet er einen alten Mann, Wagner, der seit der Studentenzeit mit Ploetz lange Jahre eng befreundet war, bevor die Freundschaft aus politischen Gründen in die Brüche ging, deren Wege sich aber immer wieder bis zuletzt kreuzten.
Wer war Alfred Ploetz? Geboren 1860 in Swinemünde, hatte Ploetz zunächst Ökonomie studiert und danach Medizin. Während der Studentenzeit gründete er mit einigen Mitstreitern, unter Anderem auch den Brüdern Carl und Gerhart Hauptmann, den Verein Pacific, der sich für die Ideen der ikarischen Gemeinden in Übersee begeisterte. Nach dem Studium der Medizin und arbeitete er im berüchtigten Burghölzli, der Zürcher Psychiatrischen Universitätsklinik mit Auguste Forel zusammen; auch politisch wechselte Alfred Ploetz in jener Zeit radikal Seiten und fühlte sich schon bald in nationalkonservativen, rassistischen und antisemitischen Kreisen zuhause. Das Ende des 19. Jahrhunderts war die Blütezeit eines neu aufkeimenden und sich politisch formierenden Rassismus. Zusammen mit Wilhelm Schallmayer gilt Alfred Ploetz als Begründer der Eugenik in Deutschland, er war es auch, der den Begriff der Rassenhygiene prägte.
Vielleicht liegt es an der zu geringen Spannkraft meiner Aufmerksamkeit beim Lesen von literarischen Werken? Denn es passiert mir immer wieder, dass ich einen Roman zu lesen beginne, durchaus interessiert und vom Plot gebannt, doch nach etwa hundert Seiten lässt das Interesse immer mehr nach, bis ich an einen Punkt komme, wo ich mich ernsthaft frage, was das Ganze soll? Wohin führt diese Geschichte? Und interessiert mich eigentlich noch, wie sie endet? Ob sie endet?
Ein derartiges Verhalten schwächelnder Lektüre befällt mich selten bei den sogenannten Klassikern, beim Lesen moderner Autoren jedoch immer wieder und immer öfter. Das ist keine schöne Erfahrung, und sie betrifft nur denjenigen Teil des Kritikers, der sich bei der Ausübung seines Berufes auch ein bisschen unterhalten will. Die anderen Ebenen der Kritik sollen jetzt in den Vordergrund treten.
Zum einen wäre da der Plot. Der Roman hat etwas Fadenhaftes, womit nicht gemeint ist, dass er etwas Fadenscheiniges hätte! Fadenhaft ist seine Erscheinung, weil sich die Handlungen dieses Romans erst am Ende zu einer Einheit verbinden.
Jean-Paul Didierlaurent: „Macadam oder Das Mädchen von Nr. 12“
Es gibt Bücher, die machen es einem nicht leicht. Ich meine das durchaus im ganz physischen, materiellen Sinne. Es gibt Bücher, die sich mir, dem Puristen, widersetzen und einen inneren Widerstand auslösen, der im ersten Moment schwer zu erklären ist.
Im zweiten Moment wird klar, dass der Leser ein Buch in den Händen hält, das nicht nur durch seine Geschichten, sondern auch schon durch seine Aufmachung darauf hinweisen will, dass wir es hier mit zauberhaften kleinen Geschichten zu tun haben, welche das Leben feiern und die Schönheit der Welt betonen möchten.
Nimmt man dieses Buch in die Hand, durchblättert man seinen Inhalt, so sieht man den unterschied. Der Text ist durchgehen in einem Himmelblau gesetzt, welches die luftige Leichtigkeit des himmlischen Inhalts unterstreichen soll; die Buchseiten selbst changieren von einem cremefarbenen Weiß zu einem Babyblau und wieder zurück. Es fällt schwer, hier nicht die Nerven zu verlieren.
Matthias Zschokke: „Ein Sommer mit Proust“
Matthias Zschokke ist nicht der Erste, der seine Leseerfahrungen mit Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit aufschreibt, um sie mit Anderen zu teilen oder um sich selbst zu vergewissern, was man da eigentlich gerade macht.
In den letzten Jahren gab es gleich mehrere Autoren, die sich an einer Proust-Lektüre versucht und ihre Erfahrungen in Buchform veröffentlicht haben. In den meisten Fällen bleibt das Werk als solches, abgesehen von den beschriebenen Mühen der Lektüre, in seinem Status als Jahrhundertwerk der Weltliteratur unangefochten, wenn es nicht sogar, wie es der Kanon vorschreibt, über allen grünen Klee gelobt wird. — Hier nicht.
Proust gehört als fester Bestandteil zum Kanon der Weltliteratur, doch seien wir mal ehrlich: Wer von uns hat dieses über 5300 Seiten (Frankfurter Gesamtausgabe) umfassende Prosawerk wirklich und komplett gelesen? Da muss es schon einen ganz besonderen Anschub geben, einen Anlass und einen wirklich guten und triftigen Grund, sich diesem Mammut zu nähern und den Kampf mit der Prosa aufzunehmen.
Theresia Enzensberger: „Blaupause“
In ihrem Debütroman erzählt Theresia Enzensberger die Geschichte einer jungen Frau, die am Weimarer Bauhaus studiert, sich zunächst in den einen, dann in einen anderen Mann verliebt und am Ende, nach anfänglichen Widerständen, ihren eigentlichen Traum, am Bauhaus Architektur zu studieren, doch noch verwirklichen kann. Alles begann sehr hoffnungsvoll, als ihre Mappe mit Architekturzeichnungen von Walter Gropius höchstpersönlich begutachtet und sie daraufhin für ein Probesemester am Bauhaus in Weimar angenommen wurde! Doch dann wurde sie, nur weil sie eine Frau ist, in die Textilwerkstatt gesteckt; als Frau wurde ihr keine besondere Begabung für konstruktives Denken zugetraut. Ob dieses Vorurteil auch am fortschrittlichen Bauhaus der gängigen Praxis entsprach, lässt sich in diesem Rahmen nicht nachverfolgen, doch die vergleichsweise geringe Anzahl von Architektinnen am Bauhaus könnte ein Indiz dafür sein.
Luise ist eine jener Neuen Frauen, die wir als den selbstbewussten und modernen Frauentyp mit jener Zeit der Weimarer Republik verbinden. Am Bauhaus hat es solche Frauen mit kurzen Haaren und neuen Ansichten natürlich gegeben, denn hier waren freies Denken und ein Leben abseits der gesellschaftlichen Konventionen schon früh möglich, während sich weibliche Emanzipation und alternative weibliche Lebensentwürfe abseits eines Lebens als Ehefrau und Mutter in den kleinen Städten und auf dem Lande erst sehr viel später etablieren konnten. Zu jener Zeit des Romans, Anfang der 1920er Jahre, sollte sich erst langsam, vor allem in den Großstädten und vor allem in Berlin jener neue Typus der emanzipierten Frau herausbilden.
Joseph von Eichendorff: „Aus dem Leben eines Taugenichts — Bilder von Hans Traxler“
Es ist schön, nach einer gewissen Zeit auf einen alten Bekannten zu treffen. Wie Goethe in seinem Faust schon bemerkte: „Von Zeit zu Zeit seh‘ ich den Alten gern, Und hüte mich, mit ihm zu brechen.“ Eichendorffs Taugenichts ist solch ein guter alter Bekannter. Wir alle haben den Text, meist in der preisgünstigen kleinen Reclam-Ausgabe, im Deutschunterricht gelesen, und die meisten dürften diesen Text, im Gegensatz zu so mancher anderen Lektüre, in guter Erinnerung behalten haben.
Jetzt hat der Insel-Verlag eine hübsche Neuauflage dieses romantischen Klassikers herausgebracht: eine von Hans Traxler illustrierte Ausgabe! Hans Traxler lag vor kurzem schon einmal auf dem Tisch des Rezensenten, natürlich nicht persönlich, sondern in Form einer wunderschön gestalteten und kongenial von seiner Frau zusammengestellten Lichtenberg-Anthologie. Nun also Eichendorff. Insgeheim fragt man sich, was wohl als nächstes kommt?
Im vierten Jahrhundert verfasste Augustinus seine „Confessiones“. Diese Bekenntnisse eines zum Christentum Bekehrten gehören zu den ersten autobiografischen Schriften der Weltliteratur. Seine Bußschrift liest sich wie ein viele Hundert Seiten langes Gebet; es ist die (für christliche Leser berückende, für atheistische Leser bedrückende) Entwicklungsgeschichte einer Abkehr vom weltlichen Leben und der selbstgewählten Unterwerfung unter den Willen Gottes.
Deborah Feldmans Autobiografie „Unorthodox“ ist das genaue Gegenteil: Es ist die Geschichte einer Befreiung aus einem (eben gerade nicht selbst gewählten) religiösen Gefängnis. Von ihrer Geburt an war sie Mitglied in der ultraorthodoxen Sekte der Satmarer. Mitten in Williamsburg, einem Stadtteil von Brooklyn, wuchs sie auf in einem abgeschlossenen Universum mit eigenen Regeln und Gesetzen, mit wirklich sehr eigenen Gesetzen und Ansichten.
Stefan Geyer (Hg.): „Vom Glück Fahrrad zu fahren — Ein literarischer Rückenwind“
Im Grunde braucht man keinen Rückenwind, um beim Fahrradfahren Glück zu empfinden. Der Wind in den Haaren, das befreiende Gefühl, sich schnell und ohne Motorkraft durch die brodelnde Stadt, über das weite Land oder durch den tiefen Wald bewegen zu können, die Schönheit des Augenblicks und die Freiheit der Richtungswahl zu genießen — dies alles trägt zu jenem Glück bei, das der Radfahrer empfindet, wenn er ganz in der Gegenwart verweilt und seine Ruhe im Tun findet.
Dennoch kann ein bisschen Rückenwind nicht schaden, im Gegenteil! Mit dem Wind von hinten macht die schnelle Fahrt noch einmal so viel Spaß! Damit man das Radfahren aber auch genießen kann, sollte man sich der Anmut und Schönheit jener individuellen Bewegung durch den Raum immer wieder bewusstwerden. Hierzu hilft vielleicht unterstützend ein Kompendium literarischer Kleinode, die das Thema des Radfahrens auf die eine oder andere Weise behandeln oder zumindest streifen.
David Vogel: „Eine Ehe in Wien“
David Vogel darf also zurecht als ein europäischer Schriftsteller gesehen werden, auch wenn er überwiegend in hebräischer Sprache schrieb. Auch „Eine Ehe in Wien“, das 1929 entstand, schrieb er auf hebräisch. Es erschien erstmals 1929/1930 unter dem Titel „Chaie nissuim“ in Tel Aviv, Jerusalem und Mitzpe. Hier liegt uns nun die deutsche Übersetzung von Ruth Achlama vor, das lobende Nachwort schrieb kein Geringerer als Maxim Biller.
David Vogel konnte deutsch, aber seine sprachliche Heimat blieb zeitlebens das Hebräische. Wir dürfen also den vorliegenden Text, ungeachtet seiner im Wien der 1920er Jahre angesiedelten Handlung, nicht wie ein Werk der deutschsprachigen Literatur lesen, sondern müssen uns klarmachen, dass es sich um den Roman eines Schriftstellers handelt, der zwar durchaus über einen kosmopolitischen und multikulturellen Hintergrund verfügte, ursprünglich jedoch aus dem aschkenasischen Kulturraum der Juden Galiziens stammte.
Emmy Hennings: „Das Brandmal / Das ewige Lied“
Emmy Hennings´ Roman Das Brandmal (1920) und die drei Jahre später erschienene Erzählung Das ewige Lied (1923) sind zwei Passionsgeschichten. Die „Aufzeichnungen einer durch die Städte vagabundierenden und dabei gottsuchenden Schauspielerin […] und der Fiebermonolog einer Typhuskranken sind zwei ebenso verstörende wie verstörte Texte, in denen sich mystische Rede, Bekenntnisse und wirre Träume miteinander verschränken“, schreibt Nicola Behrmann im ausführlichen Nachwort zu dieser neuen Doppelausgabe im Wallstein-Verlag.
Beide Texte „erzählen keine Geschichte, sind psychologisch nur ungenügend motiviert und stehen ganz im Zeichen jenes ‚dunklen‘ Lebens, das Emmy Hennings von 1908 bis 1910 als Schauspielerin an kleinen Revuetheatern du Varietés führte.“ Wer jedoch unter den damaligen Lesern autobiographische Details in diesen beiden literarischen Texten erwartete, wurde enttäuscht. Emmy Hennings hatte stets beharrlich über ihr Privatleben geschwiegen; dabei hätte sie als Ehefrau des Dadaisten Hugo Ball wohl eine Menge erzählen können.
Sinclair Lewis: „Das ist bei uns nicht möglich“
Dieser Roman wird in den Feuilletons als die Wiederentdeckung des Jahres 2017 gefeiert, in jenem denkwürdigen Jahr, das durch die Wahl eines Donald Trump zum US-Präsidenten überschattet wird. So einen wie Trump hätte man sich nie im Weißen Haus vorstellen können: einen skrupellosen Machtmenschen und Populisten, der auch nicht davor zurückschreckt, in die Mikrofone zu lügen, was das Zeug hält — ja, mehr noch: der das Instrument der „Fake News“ so schamlos für die Verfolgung der eigenen Ziele einsetzt und gleichzeitig alle anderen seriösen Medien eben als „Fake“ bezeichnet.
„Das ist bei uns nicht möglich“, dachten viele US-Amerikaner noch vor und während der Wahl, doch dann wurde über Nacht das Unfassbare Wirklichkeit: ein fanatischer Verführer der Massen und nur von den eigenen Machtinteressen geleiteter Populist wird Präsident der Vereinigten Staaten.
Kurt Tucholsky: „Irgendwas ist immer“
Sie kennen das: man ist dem Ziel ganz nahe – sei es, dass man endlich eine Ruhe hat vor dem wilden Weltgetriebe; sei es, dass man alle Voraussetzungen geschaffen hat, um jetzt endlich, endlich… – und dann kommt doch wieder irgendetwas dazwischen! – Wie Tucholsky schreibt: „Etwas ist immer. Tröste dich. / Jedes Glück hat einen kleinen Stich. / Wir möchten so viel: Haben. Sein. Und gelten. / Daß einer alles hat: / das ist selten.“
Tucholsky geht immer. Ähnlich wie „Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke“ sind auch Tucholskys Gedichte stets ein wohltuender Balsam für die geschwächte Seele des vom Tempo des modernen Lebens zermürbten Großstädters. Aber auch in Liebesdingen weiß Tucholsky guten Rat. Man sah es dem kleinen dicken Berliner gar nicht an, wie faustdick er es hinter den Ohren hatte! Zwischen den Zeilen raschelt leise so mancher Unterrock. Aber vielleicht war es auch alles nur Idel und gar nicht Wirklichkeit? In seinem Gedicht „Die arme Frau“ schreibt sie, die Seine, über ihn, ihren „dicken Mann, den Dichter“, dass er seine Abenteuer nur auf dem Papier erlebe und nicht im wahren Leben; dort läge er vielmehrt nur „faul und fett und so gefräßig“ herum. „Und dabei gluckert er unmäßig / vom Rotwein, den er temperiert.“
Erich Kästner: „Der Zauberlehrling“
Dr. Kästner, wie man ihn kennt und liebt. In diesem hübschen kleinen Bändchen sind zwei Romanfragmente sowie seine „Briefe an mich selber“ versammelt. Es sind allesamt Texte, die Kästner im inneren Exil geschrieben hat. Das darf man so sagen, obwohl das kürzere Fragment („Der Doppelgänger“) noch 1933 erschienen ist, also im Jahr der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten.
Im Mai desselben Jahres brannten auch Kästners Werke auf den Scheiterhaufen der Bücherverbrennung; Kästner war selbst Augen- und Ohrenzeuge dieses Nazi-Spektakels in Berlin. Dennoch blieb er, anders als viele seiner Kollegen, in Nazi-Deutschland. Dafür mag es drei Gründe gegeben haben: zum einen hatte Kästner sein Leben lang eine sehr starke Mutter-Bindung; die Mutter lebte in Dresden, und er wollte sie nicht zurücklassen; zum anderen sagte er, er wolle Chronist der Ereignisse sein und über das Leben im Dritten Reich schreiben; und nicht zuletzt mag auch seine nicht-jüdische Herkunft dafür ausschlaggebend gewesen sein, sich nicht ins Ausland abzusetzen, sondern das innere Exil zu wählen.
Seit dem Publikationsverbot im Dritten Reich erschienen (und erscheinen bis heute) seine Bücher im Schweizer Atrium-Verlag. Kästner blieb während der Jahre der Nazi-Herrschaft fast durchgehend in Berlin, schrieb seine Beobachtungen und Gedanken auf, um sie später einmal literarisch zu verwenden. Solch ein bemerkenswertes Zeugnis der Ereignisse sind auch Kästners Tagebuchaufzeichnungen, die er in einen unscheinbaren blauen „Blindband“ geschrieben hat; sie wurden später von ihm unter dem Titel „Notabene 45“ veröffentlicht.
Edgar Allan Poe: „Unheimliche Geschichten – Herausgegeben von Charles Baudelaire“
Die meisten Leser kennen die Geschichten von Edgar Allan Poe oder zumindest einige der bekanntesten: „Der Untergang des Hauses Usher“, „Der Gold-Käfer“, „Der Doppelmord in der Rue Morgue“ oder auch Poes berühmtes Gedicht „The Raven“. Doch kennen wir ihn wirklich?
Wer Poe im amerikanischen Original gelesen hat, kommt diesem Ziel deutlich näher als jene Leser, die sich auf eine deutsche Übersetzung dieses faszinierenden Schriftstellers verlassen müssen. Es ist der akribischen und einfühlsamen Arbeit des Übersetzers zu verdanken, wenn neben dem reinen sprachlichen Transfer des Inhalts auch etwas von der Form des Originals auf die Übersetzung abstrahlt.
Poe wurde seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die jüngste Gegenwart immer wieder übersetzt. Nun gibt es noch eine weitere neue Übersetzung von Andreas Nohl. Ist das wirklich nötig? Was ist an dieser neuen Übersetzung anders?
Erich Kästner: „Verlobung auf dem Seil — Vom Heiraten und sonstigen Schwierigkeiten“
Es zählt jener Moment zu den schönsten im Berufsleben eines Rezensenten, wenn ein neues Buchpaket eintrifft. Schnell ist der unbekannte Schatz ausgepackt und bietet sich dem zukünftigen Leser an: noch ganz jungfräulich und in eine die Inhalte konservierende Folie eingeschweißt liegt das frische Rezensionsexemplar auf dem Tisch, den Rezensenten lockend und ihn einladend, die dünne Folie vorsichtig einzureißen und zu entfernen, die den Inhalt von seinem Leser trennt.
Walter Benjamin sprach in seiner Berliner Chronik ganz zurecht von jener „Beseligung, mit der man das neue Buch entgegennahm, kaum wagte, einen flüchtigen Blick hineinzuwerfen“. So geht es wohl jedem empfindsamen Leser, der von einem interessanten und verheißungsvoll klingenden Titel magisch angezogen wird, mit dem ein Buch sich seinem potenziellen Liebhaber auf verführerische Art zeigt und mit seinen Reizen nicht geizt.
So ergeht es mir mit jedem neuen Buchpaket, das ich aus den Vorschauen der großen und kleinen Verlage ausgewählt habe und dessen druckfrische Exemplare nach einer langen Weile des Wartens nun endlich bei mir eintreffen; ganz besonders geht es mir aber so, wenn ein neuer Auswahlband mit Kästner-Texten auf meinem Rezensenten-Tisch landet. So auch dieses Mal — bei dem neuen Band mit dem Titel „Verlobung auf dem Seil“.
Mascha Kaléko: „Das lyrische Stenogrammheft“
Es gibt Bücher, die muss man einfach kennen. Besser noch, man besitzt sie. Stehen sie erst einmal im eigenen Bücherregal, so kann man sie jederzeit zur Hand nehmen und sich an ihnen erfreuen. Ein solches Buch ist zweifellos Mascha Kalékos Klassiker „Das lyrische Stenogrammheft“.
Was fasziniert den heutigen Leser an diesem Büchlein? Sicherlich ist es zunächst die Sprache, mit der die Autorin das Großstadtleben beschreibt. Es ist das Leben einer jungen Frau im Berlin der 1920er und 1930er Jahre, welches hier seine lyrische Form erhält. Das alles ist gut 90 Jahre her, und trotzdem wirken Kalékos Texte so modern, als ob sie erst gestern geschrieben worden wären.
Wie macht sie das? Es ist die schonungslose Ehrlichkeit und das Unmittelbare dieser Aufzeichnungen aus einem Tollhaus der Gefühle. Kaléko ist niemals die teilnahmslose Beobachterin, sondern sie steckt mittendrin im Trubel der Großstadt. Ihre Liebschaften, ihre Sehnsüchte, Träume und Enttäuschungen, das Hoffen und das Warten, oft auch das vergebliche Warten, all dies beschreibt sie in ihren Texten; sie schreibt auf, was sie bewegt, und auf diese Weise bewegt sie auch die Leserin und den Leser.
Erica Jong: „Angst vorm Sterben“
Erica Jong? Da war doch was? — Richtig. „Angst vorm Fliegen“ hieß der Roman, der die Schriftstellerin Anfang der 1970er Jahre auf einen Schlag berühmt gemacht hatte. Das Buch wurde nicht zuletzt wegen seiner Freizügigkeit berühmt und wurde auch zu einem modernen Klassiker der feministischen Literatur, weil in ihm die Frau selbstbestimmt ihre Sexualität entdeckte und lebte. Nach „Angst vorm Fliegen“ wurde es stiller um Erica Jong, aber mit ihrem Roman „Fanny“ (1983) konnte sie einen weiteren Bestseller landen.
Jetzt hat Erica Jong wieder einen Roman geschrieben: „Angst vorm Sterben“. Das klingt schon anders als die Angst vorm Fliegen. Die Autorin lebt in New York und ist Baujahr 1942, gehört aber noch lange nicht zum alten Eisen.
Denn anders als der Titel vermuten lässt, ist „Angst vorm Sterben“ wieder ein sehr freizügiger Roman, in dem es um das Liebesleben der Vanessa Wonderman geht — in vielen Aspekten scheinbar ein Alter Ego der Autorin.
Franziska Kamp: „Arro Ganter – Der eingebildete Kranke 2.0“
Dr. Franziska Kamp ist Allgemeinärztin. Sie hat sich mit Molières „Der eingebildete Kranke“ beschäftigt und die Geschichte in unsere Gegenwart transportiert. — Das klingt vielleicht ein wenig platt, aber die Autorin weiß, wovon sie spricht. In ihrer Praxis begegnet sie so manchem schrägen Vogel.
Wer kennt nicht — zumindest ab und an — das Gefühl, von seiner Umwelt überfordert zu sein? Unsere schöne neue, digitale Welt eröffnet uns derartig viele Möglichkeiten, dass wir oft gar nicht so recht wissen, wo wir anfangen sollen. Und was noch schlimmer ist: Die unbegrenzten Möglichkeiten fordern natürlich auch dazu auf, sich ihrer zu bedienen. Die Folgen sind Stress und Überforderung.
Wer seine Zeit — seine Arbeits-, Freizeit und Lebenszeit — nicht bis zur letzten Sekunde effektiv nutzt, der fällt im Wettbewerb der „Winner“ ganz schnell ins hintere Läuferfeld zurück. Wer so denkt, hat natürlich ein Problem. Ein solcher Mensch ist Arro Ganter, der Protagonist und die Zentralfigur dieser schönen kleinen Satire.
Günter Stolzenberger (Hg.): „Der komische Kafka — Eine Anthologie“
Kafka und Komik, das klingt zunächst nach zwei unvereinbaren Dingen. Kafka ist doch nicht lustig, schon gar nicht komisch! Denken wir an seine Erzählungen — Die Verwandlung, Ein Hungerkünstler, Ein Landarzt, In der Strafkolonie, Das Urteil — oder an seine großen Romanfragmente — Das Schloss, Der Prozeß, Amerika: All das ist doch nicht komisch! Oder vielleicht doch?
Im Marix-Verlag ist vor einer Weile eine Anthologie mit dem provozierenden Titel „Der komische Kafka“ erschienen. Schon das erste Durchblättern dieses immerhin 320 Seiten starken Bandes lässt erahnen, dass sich der Rezensent (wie hoffentlich die meisten Leser dieser Rezension) in Kafka getäuscht hat. In der Tat wird auf den zweiten Blick klar, wo Kafkas Witz verborgen liegt: im Detail!
Natürlich gibt es auch eine ganze reihe von witzigen kleinen Erzählungen. Hier fallen einem nicht nur spontan jener Blumfeld, ein älterer Junggeselle oder Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse ein; auch Der Bau oder die kurze Erzählung Großer Lärm kommen einem in den Sinn.
Leonardo da Vinci: „Der Esel auf dem Eis – Miniaturen“
Welcher Name fällt Ihnen bei dem Begriff Universalgenie ein? — Richtig, natürlich Leonardo da Vinci! Okay, als richtige Antwort könnte auch Galileo Galilei gelten, doch hier geht es um den Erstgenannten.
Leonardo war nicht nur Maler, Architekt, Bildhauer, Anatom, Ingenieur und Philosoph. Mit anderen Worten: Er war, was wir heute unter einem Universalgelehrten verstehen — eine Spezies, die längst ausgestorben ist. Leonardo lebte im 15. Jahrhundert und gilt als einer der wichtigsten Künstler und Gelehrten der italienischen Renaissance.
Jeder kennt die wichtigsten Kunstwerke Leonardos: das Abendmahl, die Mona Lisa, die Dame mit dem Hermelin. Jeder weiß, dass Leonardo da Vinci Leichen seziert hat, obwohl dies strengstens verboten war. Leonardo war ein hervorragender Ingenieur und Erfinder, der sein Talent nicht zuletzt auf dem Gebiet der Waffentechnik einsetzte. — Doch Leonardo als Schriftsteller?!?
Irmgard Keun: „Kind aller Länder“
Die Erzählstimme dieses Exil-Romans von Irmgard Keun ist ihre zehn Jahre alte Tochter Kully. Sie ist die (fiktive) Tochter von Irmgard Keun und Joseph Roth. Der Roman erschien 1938 im Amsterdamer Querido Verlag. Er ist auch das literarische Zeugnis jener Zeit, in der Keun und Roth nach ihrem Aufeinandertreffen in Ostende zu einem Paar wurden, das gemeinsam trank und schrieb. Die Keun war damals zwar mit dem 23 Jahre älteren Schriftsteller und Regisseur Johannes Tralow verheiratet, doch was heißt das schon in einer Zeit, wo in Deutschland der Hass und die Gewalt regieren?!
Irmgard Keun wurde früh zu einer der berühmtesten deutschen Schriftstellerein ihrer Zeit. 1905 geboren, erlebte sie in den Zwanziger Jahren, wie ein neuer Frauentyp entwickelte, wie die „neue Frau“ mit Selbstbewusstsein ihren Platz in der Gesellschaft behauptete. Diesen neuen Frauen gab die Keun eine literarische Stimme. Schon ihr erster Roman „Gilgi, eine von uns“ war in einer Sprache geschrieben, die von der deutschen Hochsprache der besseren Literatur derart weit entfernt war, dass man Irmgard Keun zunächst in die Schublade „Unterhaltung“ stecken wollte.
Wir schreiben das Jahr 2031. Die Welt ist kalt geworden. Ganz anders das Klima: Hitzewellen wechseln sich ab, Dürrekatastrophen und Überschwemmungen sorgen für unwirtliche Lebensbedingungen. Der verordnete Staatsfeminismus, der Vegetarismus und die allgegenwärtige Vernetzung aller Lebensbereiche machen die Sache nicht besser.
Es ist eine Zeit, in der die Jungen Racke und die Mädchen Binja-Bathseba genannt werden. So wie die Kinder von Sebastian und Christine. Christine war Ministerin für Umwelt, Naturschutz, Kraftwerkstilllegung und Atommüllentsorgung; seit zwei Jahren ist sie verschwunden, aber sie ist nicht tot. Sie lebt im Prepper-Raum des Hauses, backt Kekse und ist Basti auch sexuell zu Willen.
Dann trifft man sich zum 50-jährigen Abitreffen in einer Hamburger Kneipe. Die meisten sehen aus wie um die Dreißig; dank der Ephebo-Pillen, die den Alterungsprozess nicht nur aufhalten, sondern sogar rückgängig machen können. Das Risiko liegt in einer etwa 60 Prozent hohen Krebsrate der Tablettenschlucker. Es gibt nichts umsonst in diesem Leben. Auf dieser Feier begegnet Sebastian seiner Jugendliebe Elli, die immer noch so jung und schön ist wie damals. Damit beginnt die Geschichte, an Fahrt aufzunehmen. Alles wird komplizierter und nimmt ungeahnte Wendungen.
Wladimir Kaminer: „Das Leben ist (k)eine Kunst“
Kaminer mal wieder… Die Geschichten scheinen aus ihm herauszusprudeln wie aus einem niemals versiegenden Brunnen. Wie er in einer seiner neuesten Geschichten erzählt, war das eigentlich schon immer so. Schon im Kindergarten hatte das Geschichtenerzählen sein Leben gerettet. Es gab damals nämlich einen absolut ungenießbaren Grießbrei, den er einfach nicht essen wollte.
Doch er konnte andere Kinder dazu überreden, seinen Brei aufzuessen, indem er ihnen Geschichten erzählte. Hierzu fabulierte er ganze Fortsetzungsgeschichten, die sich aus Bruchstücken von Actionfilmen zusammensetzten, die der kleine Wladimir im Kino sah.
Später ging das in der Schule weiter, was seine Lehrer an den Rand des Wahnsinns brachte und ihn fast von der Schule fliegen ließ. Im Militärdienst wurde er zum Hieromanten und Wahrsager für seine Kollegen. Das Geschichtenerzählen liegt ihm also im Blut. Und trotzdem ließ sich Kaminer zunächst zum Toningenieur ausbilden. Heute legt er immer noch regelmäßig für die „Russendisko“ Platten auf – für „betrunkene Teenager“, wie sein Vater mürrisch anmerkt.
Erich Kästner: „Der Herr aus Glas – Erzählungen“
Wenn man ein Buch von Erich Kästner in den Händen hält, kann man eigentlich nichts falsch machen: Wenn man es schon kennt, macht es Spaß, die Geschichten wieder und immer wieder aufs Neue zu lesen. Und wenn man das Buch noch nicht kennt, umso besser!
Trotzdem wird Kästner nach wie vor oft nur als ein Kinder- und Jugendbuch-Autor oder als Lyriker mit spitzer Feder wahrgenommen, was beides viel zu kurzgefasst ist. Denn der Mann war ein fleißiger Schreiber und hat neben seinen Gedichten, Kinderbüchern und Romanen eben auch einen ganzen Berg an Erzählungen geschrieben: 140 davon wurde veröffentlicht.
Jetzt hat der Schweizer Atrium-Verlag, der „Haus-Verlag“ Kästners, eine Auswahl der interessantesten Erzählungen unter dem geheimnisvollen Titel „Der Herr aus Glas“ veröffentlicht. Interessant sind diese Erzählungen nicht nur, weil sie die besten des Autors sind, sondern weil sie ihn als einen ungeheuer vielseitigen und zum Teil auch überraschenden Schriftsteller präsentieren.
Erich Kästner: „Ein Mann gibt Auskunft – Gedichte“
Die meisten Leser kennen Kästner als einen erfolgreichen Kinderbuch-Autor: „Pünktchen und Anton“, „Emil und die Detektive“ oder „Das fliegende Klassenzimmer“ hat wohl jeder irgendwann in seiner Kindheit gelesen. Kleiner wird der Kreis der Leser, wenn es um die Bücher für Erwachsene geht. Den „Fabian“ (1931) hat man vielleicht, wenn man Glück und einen fähigen Deutschlehrer hatte, in der Schule gelesen. Die Gedichte von Kästner kennt man hingegen nur auszugsweise. Dabei waren „Herz auf Taille“ (1928), „Lärm im Spiegel“ (1929) und „Ein Mann gibt Auskunft“ (1930) seinerzeit echte Bestseller. Sie wurden gerne gelesen und noch lieber verschenkt.
„Ein Mann gibt Auskunft“ liegt zeitlich genau zwischen „Emil und die Detektive“ (1929) und dem „Fabian“ (1931). Wer nun glaubt, ein leichtes, lockeres Gedichtbändchen vorzufinden, sieht sich jedoch arg getäuscht: Kästner hat es nämlich faustdick hinter den leicht abstehenden Ohren. Seine Gedichte in diesem Band orientieren sich eher am „Fabian“ und sind sicherlich nicht für Kinderohren bestimmt. Kleine Kostprobe gefällig?
Christopher Isherwood: „Leb wohl, Berlin“
Christopher Isherwood lebte von 1929 bis 1933 in Berlin. Er folgte seinem Freund W. H. Auden nach Berlin, das seinerzeit nicht nur die angesagteste Metropole Europas, sondern auch einer der weltweit wichtigsten schwul-lesbischen Hotspots war. Berlin war modern, mondän, abgefuckt, billig und permanent in Feierlaune. — Eigentlich so wie heute, nur ein bisschen doller.
Isherwood wechselte immer wieder die Wohnungen, bewohnte meistens nur ein Zimmer zur Untermiete und bewegte sich im glitzernden Schein des Berliner Nachtlebens ebenso wie in den zwielichtigen und verruchten Ecken der Stadt. Es fand sich schnell eine englische Community aus Künstlern, Schriftstellern und vor allem Lebenskünstlern zusammen, die der spießigen Enge der britischen Gesellschaft entkommen wollten. In Berlin war´n se da richtig! Hier konnte man was erleben, konnte die Elektrizität in der Luft spüren, die vom berüchtigten „Tempo! Tempo! Tempo!“ der Großstadt, von ihrem großen Gefälle zwischen Arm und Reich und den politischen Spannungen zwischen Kommunisten und Nazis herrührte.
Daniel Glattauer: „Die Wunderübung“
Geschichten von und mit Paartherapeuten scheinen zurzeit in Mode zu sein. Das Theaterstück „Die Wunderübung“ von Daniel Glattauer macht hier keine Ausnahme. Es geht um ein Ehepaar Anfang vierzig, das sich bei seiner ersten Sitzung einer beginnenden Paartherapie befindet. Der Therapeut, ein Herr Magister, scheint sehr erfahren, durchaus positiv gestimmt und relativ euneinfühlsam gut gelaunt. Das ändert sich im Laufe des Stücks noch, doch zunächst versucht er das zerstrittene Paar aus seiner Verkrampfung zu lösen und mit kleinen Übungen aus dem permanenten Gegeneinander wenigstens vorübergehend ein Miteinander und Füreinander zu machen. Dies gelingt ihm nur bedingt.
Nach der Pause wirkt der zuvor so auffallend gut gelaunte und aufgeräumte Therapeut seltsam abwesend und fahrig in seinen Antworten. Was passiert ist oder zu sein scheint, wird an dieser Stelle nicht verraten. Den psychologisch Geschulten mag der Terminus „paradoxe Intervention“ einen kleinen Hinweis geben. Aber soviel darf verraten werden: Die Handlung vollzieht nach der Pause eine radikale Wendung.
Patrick Ness: „Die Nacht des Kranichs“
George Duncan, ein durchschnittlicher Mann mit einem ganz normalen Leben und einem Druckerladen in London hört eines Nachts einen Laut im Garten. Klagend, wehklagend, ein Ton, der sich direkt an sein Herz wandte. Ab da war seine Welt im Wandel. Denn selbst in dem Moment des Hörens staunte er über seine plötzlich poetischen Beschreibungen, Worte, die ihm in den Sinn kamen.
So geht es dem Leser auch. Diese Schreibweise, die Poesie der Worte zieht ihn förmlich in das Buch. Auch wenn man normalerweise lieber Krimis liest. Und nicht wirklich für Fantastisches ist. Dieses Buch ist wie ein Märchen für Erwachsene in Form eines Romans und in einer besonderen Sprache. Sie vermischt Schönes mit normaler Alltagskommunikation. Derbe Situationsbeschreibung mit umschreibender Schilderung der Gefühle, der Irritation.
Und es handelt dazu noch in der Gegenwart, zeigt das beinahe nicht erwähnenswerte, durchschnittliche Leben eines 48-jährigen. Und vor allem dass Leben zweier Frauen. Denken Sie nicht an eine Dreiecksgeschichte – zu profan. Und doch. Duncan erklärt aber auch seine Vergangenheit, versucht mit seiner eigentümlichen Tochter Amanda klar zu kommen. Ist beschäftigt mit seinem Enkel J.P..
Marcel Reich-Ranicki (Hg.): „Die besten deutschen Gedichte“
Wir leben in einer hektischen und ruhelosen Zeit. Wer dennoch nicht auf den Genuss von Literatur verzichten möchte, muss sich etwas einfallen lassen. Statt sich wie früher oft über Tage und Wochen in einen dicken Roman vertiefen zu können, ist man heute gezwungen, sich mit kürzeren literarischen Formen wie Erzählungen oder Kurzgeschichten zu begnügen. Und wenn die Zeit nicht einmal mehr zum Lesen einer Kurzgeschichte langt, so bleiben uns immer noch die Gedichte als eine der kürzesten literarische Formen.
Gedichte sind, wie der Name schon sagt, verdichtete, komprimierte Wirklichkeit. In manchem Gedicht sind wir in der Lage, die ganze Welt zu entdecken, und doch sind Gedichte meist kurz und schnell zu lesen. Diese Verdichtung des Lesestoffs und die Zuspitzung des Inhalts auf das Essenzielle machen Gedichte so faszinierend.
Interview mit Kathrin Weßling auf der Frankfurter Buchmesse 2012
Kathrin Weßling hat ein schönes Buch über ein unschönes Thema geschrieben: Depression. In Ihrem Debütroman „Drüberleben – Depressionen sind doch kein Grund, traurig zu sein“ erzählt sie die Geschichte einer jungen Frau, die seit Jahren an Depressionen erkrankt ist und sich einer erneuten Therapie unterzieht. Was als Plot gruselig und nach einer großen Portion Selbstmitleid klingt, ist wirklich toll und spannend geschrieben.
Auf der Frankfurter Buchmesse 2012 hatten wir Gelegenheit, mit der Autorin über das Buch, über ihr Leben und übers Drüberleben zu sprechen.
Kathrin Weßling: „Drüberleben – Depressionen sind doch kein Grund, traurig zu sein“
Kathrin Weßling hat ein Buch über ihre jahrelangen Depressionen und ihre klinische Therapie geschrieben. Wenn man das liest, möchte man als Rezensent am liebsten weglaufen. So etwas kann ja fürchterlich peinlich sein – larmoyant, weinerlich und selbst bezogen, bestenfalls anklagend oder nichts sagend. Kurz, man kann solch einen Text ganz schnell an die Wand fahren.
Deshalb schnell die gute Nachricht zuerst: Kathrin Weßlings Buch ist all das zum Glück nicht, sondern ein wirklich sehr schön geschriebenes und authentisches – ja, was eigentlich – Sachbuch oder Roman?
Rainer Maria Rilke: „Die schönsten Gedichte“
„Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben […]“– Wer kennt nicht diese leise Melancholie, die von Rilkes Gedicht „Herbsttag“ ausgeht?
Rainer Maria Rilke, 1875 geboren in Prag und 1926 schon mit 51 Jahren in einem Schweizer Sanatorium gestorben, war einer der bedeutendsten, vielleicht der bedeutendste deutschsprachige Lyriker.
„Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ gehören zu den interessanten und kanonischen Texten der literarischen Moderne. Veröffentlicht 1910, ist Rilkes Roman in Tagebuchform vor allem eine Verarbeitung eigener Erfahrungen, die er zu Anfang des 20. Jahrhunderts während längerer Aufenthalte in Paris machte.
So stellt der Roman, wie viele andere Werke seiner Zeit, die Großstadterfahrung ins Zentrum der Handlung.
Im vierten Jahr nach der Französischen Revolution von 1789, während in Deutschland der Klassizismus durch Goethe und Schiller in voller Blüte steht, sitzt eine 18jährige Engländerin im Pfarrhaus eines kleinen Dorfes in der südenglischen Grafschaft Hampshire und schreibt einen Briefroman.
Angeregt durch „Pamela“ und „Clarissa“, die ungemein erfolgreichen Briefromane Samuel Richardsons, die bereits vor einem halben Jahrhundert erschienen waren, und vielleicht auch ausgelöst durch die eigene Lektüre der vor wenigen Jahren in englischer Übersetzung erschienenen „Gefährlichen Liebschaften“ des Franzosen Choderlos de Laclos, schreibt die junge Autorin ihren ersten und einzigen Briefroman – zu einer Zeit, in der diese Form des Romans längst durch neue Formen abgelöst worden war.
Werner Bartens: „Betrügen lernen“
Man kennt Werner Bartens als erfolgreichen Autor von medizinischen Sachbüchern. Seine Bücher gegen den Fitness- und Vorsorge-Wahn, über Gentechnik, Medizin-Irrtümer und Glücks-Medizin sind Bestseller.
Hauptberuflich arbeitet der mit vielen Preisen ausgezeichnete Wissenschaftsjournalist als Leitender Redakteur des Ressorts Wissenschaft bei der Süddeutschen Zeitung.
Tilman Birr: „On se left you see se Siegessäule“
“Wat biste, Stadtaklära?!” – “Stadtbild-Erklärer, ja.“ So nennt man Stadtführer in Berlin. Aber Führer sagt man nicht, auch nicht Stadtführer. Deswegen nennt man das, was Tilman Birr als Aushilfsjob nach seinem Studium machte, eben politisch korrekt „Stadtbild-Erklärer“.
Wer einen Ausflug auf einem Berliner Dampfer macht, kann viel erzählen. Tilman Birr könnte auch ein Liedchen davon singen, denn als Kabarettist steht er auch gern mit der Klampfe auf der Bühne. Doch nun hat er mit „On se left you see the Siegessäule“ seinen ersten Roman vorgelegt.
Arnon Grünberg: „Mit Haut und Haaren“
Roland Oberstein ist Wissenschaftler. Die Forschung steht bei ihm an erster Stelle. Als Wirtschaftswissenschaftler interessiert er sich für die „Geschichte der Blasenbildung“, an der er seit langem schreibt. Daneben findet er durchaus auch die Untersuchung des Völkermords unter wirtschaftwissenschaftlichen Aspekten interessant. Seine Familie hat er der Wissenschaft geopfert.
„Was ist schon ein Privatleben, wenn man seine Studenten hat und seine Forschung.“ – O-Ton Roland Oberstein. Der Niederländer ist als Dozent auf die Universität von Fairfax berufen worden. Fairfax nahe Washington, ein kleines Kaff, das außer dem Campus nicht viel zu bieten hat. „Wenn das Leben eine Vorbereitung auf den Tod sein sollte, war ein Aufenthalt in Fairfax geradezu ideal.“ Noch einmal O-Ton Roland Oberstein.
Andrej Kurkow: „Der Gärtner von Otschakow“
Igor lebt mit seinem Mutter in einem kleinen Vorort von Kiew. Das beschauliche Leben auf dem Lande ist ohne große Ereignisse. Igor ist 30, arbeitslos und eigentlich auch nicht wirklich arbeitswillig. Als Kind hat er einmal durch die Unachtsamkeit eines Verwandten ein Kettenkarussell an den Kopf bekommen und leidet seitdem immer mal wieder unter starken Kopfschmerzen. Ansonsten ist von dem Unfall zum Glück nichts zurück geblieben, aber als Entschuldigung für seine Arbeitsunlust darf der Vorfall schon mal herhalten.
Eines Tages stellt die Nachbarin einen älteren, aber noch recht rüstig wirkenden Mann vor, der sich bei Igor und seine Mutter gern als Gärtner nützlich machen würde – gegen Kost und Logis, versteht sich. Das ist Stepan, ein Mann um die sechzig und mit einer verwaschenen Tätowierung am Unterarm.
Veronika Peters: „Das Meer in Gold und Grau“
Eine junge Frau findet sich selbst, findet ihre Ruhe und ihren Mittelpunkt wieder. Eine junge Frau, die sich in ein kleines Hotel an der verschlafenen Ostseeküste zurück zieht.
Hier erzählt die Autorin von Ruth, ihrer alten Tante, die Spuren im Leben hinterlassen hat. Sie gab der Ich-Erzählerin einen Ort, an dem sie anderen Menschen begegnete. Das Hotel Palau in der Seestraße wird zur vorüber gehenden Heimat und zur Bühne eines Lehrstücks in Sachen Lebensweisheit. Was ist wirklich wichtig im Leben? Worauf kommt es an?
Charles Dickens lesen! – Buchempfehlungen zum 200. Geburtstag
Der zweihundertste Geburtstag von Charles Dickens am 07. Februar 2012 ist ein willkommener Anlass, um eine seiner vielen berühmten Geschichten zu lesen. Für manchen mag dies ein Wiedersehen mit alten Bekannten sein, für Andere ist es vielleicht das erste Mal, dass sie mit Charles Dickens in Berührung kommen.
Florian Meimberg: „Auf die Länge kommt es an – Tiny Tales“
Die Idee ist nicht neu. Kürzestgeschichten sind eigentlich eine Prosaform der deutschen Gegenwartsliteratur und waren in den 1950er und 1960er Jahren Mode. Wahrscheinlich gab es auch schon früher Kürzestgeschichten, nur nannte sie damals niemand so. Im Grunde erzählt auch jedes gute Gedicht eine Geschichte, vielleicht sogar besser als mancher lange Roman, und die visuelle Kraft eines japanischen Haikus ist ebenfalls den Meisten bekannt. – Wozu also jetzt noch „Tiny Tales“ im Twitterformat?
Heinrich von Kleist – 200. Todestag am 21. November 2011
Am 21. November 1811 erschoss Heinrich von Kleist zunächst seine Geliebte, die an Krebs leidende Henriette Vogel, und danach sich selbst. Er starb als ein Mensch, der an seinen Leidenschaften zerbrach, und als ein erfolgloser Schriftsteller, dessen Werk seinerzeit nur wenig Beachtung erfuhr.
Heute kennen wir natürlich „Die Marquise von O“, den „Zerbrochenen Krug“, das „Käthchen von Heilbronn“, die „Herrmannsschlacht“, den „Prinz Friedrich von Homburg“, den „Amphitryon“ und die „Penthesilea“ aus dem Schulunterricht. Kleist, der König der Schachtelsätze, ist ein fester Bestandteil des Kanons der deutschen Klassiker.
Interview mit Christoph Poschenrieder zu „Der Spiegelkasten“
Auf der Frankfurter Buchmesse hatten wir Gelegenheit, mit Christoph Poschenrieder über seinen neuen Roman „Der Spiegelkasten“ zu sprechen. Die Geschichte spielt im Ersten Weltkrieg und schafft es auf eindrucksvolle Weise, den Wahnsinn des Krieges erfahrbar zu machen und zu zeigen, wie unsere Sicht der Wirklichkeit letztlich immer nur in unseren Köpfen konstruiert wird.
In diesem ausführlichen Gespräch erfahren Sie, was diese Geschichte mit seiner Familie zu tun hat und wie er die Fakten für seinen Roman recherchiert hat.
Christoph Poschenrieder: „Der Spiegelkasten“
In seinem zweiten Roman erzählt Christoph Poschenrieder seine eigene Geschichte. Natürlich sind die Fakten verschleiert, die Namen zum Teil geändert und das ganze mit einer fiktiven Geschichte des Ich-Erzählers garniert.
Der Kern des Romans beruht jedoch auf Tatsachen. Seit seiner Kindheit kennt Poschenrieder die alten Fotoalben, die sein Großonkel Ludwig Rechenmacher aus dem Ersten Weltkrieg von der Westfront in Nordfrankreich mitgebracht hatte.
Diese gestochen scharfen Schwarzweiß-Aufnahmen und die mit weißer Tinte in der für ihn damals unentzifferbaren Sütterlin-Schrift geschriebenen Beschreibungen übten schon früh eine starke Faszination aus.
Volker Braun: „Die hellen Haufen – Erzählung“
Dieser Aufstand hat nicht stattgefunden. In einer kargen Sprache beschreibt der Erzähler ein Aufbegehren gegen die Umwälzungen der Nachwendezeit auf dem Boden der ehemaligen DDR. Die großen Bergbau-Kombinate, darunter auch die von Bitterrode und Mansfeld, werden von der mächtigen Kali und Salz AG aus dem Westen bedroht Treuhand abgewickelt.
Die Menschen kommen mit dem Kapitalismus in Berührung und erleben die vollständige Umwertung ihrer bisherigen Welt. Waren Sie nicht die Eigentümer dieser Werke? Waren es nicht ihre eigenen Produktionsmittel, mit denen sie arbeiteten? War das nicht ihre Arbeit, die sie für das Volk machten und die sie gut machten?
Interview mit Harald Martenstein auf der Frankfurter Buchmesse 2011
Harald Martenstein hat ein neues Buch mit den schönsten Kolumnen der letzten Jahre herausgebracht. Das nahmen wir zum Anlass, uns mit ihm auf der Frankfurter Buchmesse 2011 zu treffen und uns mit ihm ausführlich über seine Kolumnen, seine Inspiration und seine Art zu schreiben zu unterhalten. in den 30 Minuten unseres Gesprächs erzählt Harald Martenstein eine Menge über sich und sein Leben in Berlin.
Harald Martenstein: „Ansichten eines Hausschweins – Neue Geschichten über alte Probleme“
Von A wie Altersvorsorge bis Z wie Schnecken dürfen wir in dem neuen Buch „Ansichten eines Hausschweins“ in den gesammelten Kolumnen der letzten Jahre lesen, wie Harald Martenstein die Welt sieht. Um es für alle, die Harald Martenstein nicht kennen (solche Leute soll es tatsächlich noch geben), ganz deutlich zu sagen: Harald Martenstein gehört zu den witzigsten und dabei auch scharfzüngigsten Zeitkritikern weit und breit.
Axel Hacke: „Das Beste aus meinem Liebesleben“
Axel Hacke ist ein Spalter. Die Männer mögen seine Bücher, weil sie ihnen durch die Lektüre seiner larmoyanten Kritik an den Zuständen der ungleichgeschlechtlichen Beziehungen die Möglichkeit einer unterhaltsamen zeitlichen Expansion der gruppentherapeutischen Dienstagabend-Sitzungen mit den Kumpeln sowie im Rahmen der gesellschaftspolitischen Strukturen eine sogar leicht kathartische Verarbeitung der wiederholten repressiven Erlebnisse häuslicher Gewalt ermöglichen.
Doris Dörrie: „Alles inklusive“
Wenn man die Tochter einer Hippie-Mutter ist, kann es schon mal passieren, dass man „Apple“ heißt. Doch damit nicht genug, alle Versuche Apples, der chaotischen Kindheit und Jugend zu entfliehen und es im eigenen Leben geordneter und ruhiger zugehen zu lassen, scheitern, weil Apples Liebesleben von einem Desaster ins nächste schlittert.
Nie mehr soll es so schlimm sein wie damals, im Sommer 1976, als in Spanien die Hippie-Kommune von Torremolinos die freizügige Kulisse abgab für Ingrid, Apples Mutter, und Karl, einem biederen Bankangestellten aus Hannover, der mit Frau und Kind zugfällig am selben Strand Urlaub machte.
Wells Tower: „Alles zerstört, alles verbrannt“
Man erweist einem Autor einen Bärendienst, wenn man in den Klappentext schreibt: „Dieser Autor schreibt so wie xy“. Damit legt man sowohl den Autor als auch die Lektüre von vornherein auf einen Rezeptionsausschnitt fest, den der Autor selbst vielleicht niemals beabsichtigt hat.
Wenn er so schreibt wie xy, dann kopiert er lediglich dessen Stil. Ein bisschen besser wäre es dann noch, wenn er den Stil und die Art und Weise der Annäherung an den Stoff von einem berühmten Vorgänger adaptieren und auf die heutige Zeit anwenden würde.
Willem Frederik Hermans: „Das heile Haus“
„Das heile Haus“ ist ein wilder, zorniger Bericht aus dem letzten großen Krieg. Desillusioniert und gleichgültig nimmt der Ich-Erzähler an diesem Krieg teil. Er ist Partisan und unterscheidet nicht mehr zwischen töten und überleben, leben lassen und getötet werden. Alles ist gleich, und alles ist unwichtig. Der Tod hat seinen Schrecken verloren, und er kennt keine Angst mehr.
Lakonisch berichtet er, wie direkt neben ihm eine Bombe einschlägt oder wie er deutsche Soldaten aus dem Hinterhalt erschießt: „Sie krümmten sich wie Schmetterlinge, die aufgespießt werden, ich erstach sie mit einer zweihundert Meter langen Nadel.“
Dorothy Parker: „Morgenstund hat Gift im Mund – New Yorker Geschichten“
Dorothy Parker war eine erstaunliche und interessante Frau. Wie interessant, das kann man in einer hervorragenden neuen Biografie von Michaela Karl („Noch ein Martini, und ich lieg unter dem Gastgeber“, erschienen im Residenz Verlag) nachlesen.
Genau so spannend und turbulent wie das Leben der amerikanischen Schriftstellerin und Theater- und Literaturkritikerin lesen sich auch ihre Kurzgeschichten. Dorothy Parker stand ständig unter Strom. Ihre Geschichten klingen oft wie die Monologe einer ennuyierten Lady aus den besseren Kreisen.
Ruth Klüger: „unterwegs verloren“
Ruth Klüger hatte in den 1990er Jahren mit ihrer Biografie „weiter leben“ über ihre Kindheit im Wien der Dreißiger Jahre und über die traumatischen Erlebnisse im Konzentrationslager Theresienstadt und Auschwitz geschrieben. Ihr Buch fand international große Beachtung und machte Ruth Klüger zu einer bekannten Schriftstellerin.
Im zweiten Teil ihrer Memoiren, wenn der romantisierende Ausdruck für die Aufzeichnung dieses bewegten und von vielen Hindernissen gezeichneten Lebens erlaubt ist, erzählt die Autorin von der Zeit ihrer Emigration in die USA 1947 bis zu Besuchen ihrer alten Heimat Wien in heutiger Zeit.