Christoph Poschenrieder: „Der Spiegelkasten“
Am: | November 15, 2011
„Was weißt Du über den Spiegelkasten?“ – „Arras.“ – „Das genügt nicht.“ „Was weißt Du denn?“ – „Schön, dann gebe ich Dir dieses: Karamchand – was kannst Du damit anfangen?“
Dieser seltsam anmutende Dialog findet zwischen dem Ich-Erzähler und einem gewissen „WarGirl18“ in einem Internetforum statt, das sich mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigt.
In seinem zweiten Roman erzählt Christoph Poschenrieder seine eigene Geschichte. Natürlich sind die Fakten verschleiert, die Namen zum Teil geändert und das ganze mit einer fiktiven Geschichte des Ich-Erzählers garniert.
Der Kern des Romans beruht jedoch auf Tatsachen. Seit seiner Kindheit kennt Poschenrieder die alten Fotoalben, die sein Großonkel Ludwig Rechenmacher aus dem Ersten Weltkrieg von der Westfront in Nordfrankreich mitgebracht hatte.
Diese gestochen scharfen Schwarzweiß-Aufnahmen und die mit weißer Tinte in der für ihn damals unentzifferbaren Sütterlin-Schrift geschriebenen Beschreibungen übten schon früh eine starke Faszination aus.
Nach vielen Jahren holte der Autor diese Fotoalben wieder hervor und machte sich daran, die Geschichte seines Großonkels zu recherchieren. Schnell waren die Bildunterschriften entziffert, aber wie hing das alles zusammen? Was war wirklich auf den Fotos zu sehen? Und wer waren die anderen Männer auf den Bildern? Was war ihre Geschichte?
Was als eine Schatzsuche im Umkreis der Familie begann, wurde schnell zu einer aufwändigen und spannenden Aufgabe. Fachliteratur über den Ersten Weltkrieg und besonders zur Geschichte des Regiments, in dem der Großonkel diente.
In der Geschichte des Romans wird der Fotograf der Alben zu dem jüdischen Offizier Ismar Manneberg; Rechenmacher selbst ist sein Freund seit der gemeinsamen Studentenzeit in München, und beide treffen auch bei der Schlacht um Arras immer wieder zusammen. Auch dieser Teil der Geschichte ist wahr. Der Großonkel Rechenmacher und Manneberg waren wirklich befreundet, seitdem beide in München Jura studierten.
Auch in seinem zweiten Roman gelingt Christoph Poschenrieder wieder, den Leser durch eine raffinierte Collagetechnik immer weiter in die Geschichte zu ziehen. War es im Debütroman „Die Welt im Kopf“ der junge Arthur Schopenhauer, der nach Venedig reist, dort das süße italienische Leben genießt und auf den jungen Lord Byron trifft, so befasst sich Poschenrieder dieses Mal mit einem Ausschnitt aus der eigenen Familiengeschichte – der Geschichte seines Großonkels – und überblendet diese in großen Teilen wahre Geschichte mit der Suche des Ich-Erzählers nach der Wahrheit.
Der Ich-Erzähler arbeitet zusammen mit seinen Kollegen als Dossier-Schreiber für eine unbekannte staatliche Organisation, die Informationen über die mediale Rezeption der Politik des eigenen Landes erhalten will. So wühlt er sich jeden Tag durch riesige Stapel an Zeitungen und schreibt seine Dossiers, von denen er sicher ist, dass niemand sie wirklich liest.
Als er sich immer tiefer in die Geschichte seine Großonkels verstrickt und nächtelang seine Recherchen nach Spuren des Onkels in den Schlachten des Ersten Weltkriegs betreibt, lebt er irgendwann nur noch in einer doppelt virtuellen Welt, die längst für ihn zur realen Welt geworden ist.
Ismar Manneberg ist Jude und überzeugter Patriot. Er hofft, wie viele Juden während des Ersten Weltkriegs, durch den leidenschaftlichen Kampf fürs Vaterland endlich auch die nötige Anerkennung in der Gesellschaft zu erlangen und als wahre Deutsche akzeptiert zu werden. Doch die Geschichte zeigte schnell, dass diese Hoffnungen unbegründet waren.
Die „deutschen Soldaten israelitischen Glaubens“ wurden von reaktionären Kräften schon bald als Drückeberger verleumdet, die die Moral der Truppe unterliefen und es sich lieber in der Etappe gemütlich machten als mit dem Feind zu kämpfen. Auch Ismar Manneberg musste sich nach seiner Verwundung und der post-traumatischen Genesungszeit zu Unrecht solche Vorwürfe anhören.
Die Männerfreundschaft zwischen Fortunatus Redux (alias Ismar Manneberg) und Cursus Velox (alias Ludwig Rechenmacher) wird zu einem der tragenden Elemente dieser spannend geschriebenen Kriegsgeschichte. Das andere tragende Element sind die Briefe, die Manneberg an das ihm unbekannte Fräulein Müller schreibt.
Weil alle an der Front ihre Briefe an die geliebten Frauen zu Hause schrieben, Manneberg selbst aber niemanden hatte, dem er schreiben konnte, erfand er sich ein Fräulein Müller, dem er sein Herz öffnete. Die Verblüffung war groß, als er nach einiger Zeit eine Antwort erhielt. So begann sein Briefwechsel mit einer Unbekannten.
Ähnliches widerfährt dem Ich-Erzähler, der mit WarGirl18 in Kontakt kommt. Sie schreiben sich und tauschen Informationen über den seltsamen Spiegelkasten aus, den Manneberg in seinem Fotoalbum verewigt hatte. Was war das für ein Kasten und wozu war er gut?
Der für seine Zeit außergewöhnliche und unkonventionelle Frontarzt und Buddhist Karamchand, der im nahe der Front bei Arras gelegenen Feldlazarett diente und auch Manneberg nach seiner Verwundung in nächtelangen Gesprächen von seinem Trauma befreite, benutzte diesen von ihm selbst entwickelten Kasten mit sich gegenüber liegenden Spiegeln, um die frisch Amputierten von ihren Phantomschmerzen zu befreien.
„Die Welt entsteht im Kopf“ schreibt Ismar Manneberg später an Frl. Müller in einem Brief, um ihr die Funktionsweise des Spiegelkastens zu erklären. Die Macht der Imagination wurde hier gewinnbringend eingesetzt, um den Verwunderten ihre Schmerzen zu nehmen.
Die Amputierten können mit Hilfe der Spiegelung des gesunden Arms und der Überrumpelung des Gehirns durch die optische Wahrnehmung wirklich von ihren Phantomschmerzen befreit werden. Diesen heilsamen Effekt entdeckte man jedoch nicht im Ersten Weltkrieg, sondern erst in den 1990er Jahren, als der indische Neurologe V.S. Ramachandran zusammen mit anderen Kollegen seine Spiegeltherapie entwickelte.
„Der Spiegelkasten“ ist ein gelungener Roman, eine spannende und vielschichtig erzählte Geschichte. Christoph Poschenrieder hat die Hürde des zweiten Romans mühelos und geradezu meisterhaft genommen. Damit ist er endgültig in der vorderen Riege der interessantesten neuen deutschsprachigen Schriftsteller angekommen. Man darf also gespannt sein, wie sich sein literarisches Werk in Zukunft weiter entfalten wird.
Zum Weiterlesen: kulturbuchtipps hat auf der Frankfurter Buchmesse 2011 mit Christoph Poschenrieder über seinen neuen Roman gesprochen. Der Autor erzählt in dem ausführlichen Interview unter Anderem, was diese Geschichte mit seiner eigenen Familie verbindet und wie er die Recherchen für dieses Buch unternommen hat.
Autor: Christoph Poschenrieder
Titel: „Der Spiegelkasten“
Gebundene Ausgabe: 224 Seiten
Verlag: Diogenes
ISBN-10: 3257067887
ISBN-13: 978-3257067880
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