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Franziska Kamp: “Arro Ganter – Der eingebildete Kranke 2.0”

Am: | März 8, 2016

Franziska Kamp: “Arro Ganter – Der eingebildete Kranke 2.0”Dr. Franziska Kamp ist Allgemeinärztin. Sie hat sich mit Molières „Der eingebildete Kranke“ beschäftigt und die Geschichte in unsere Gegenwart transportiert. — Das klingt vielleicht ein wenig platt, aber die Autorin weiß, wovon sie spricht. In ihrer Praxis begegnet sie so manchem schrägen Vogel.

Wer kennt nicht — zumindest ab und an — das Gefühl, von seiner Umwelt überfordert zu sein? Unsere schöne neue, digitale Welt eröffnet uns derartig viele Möglichkeiten, dass wir oft gar nicht so recht wissen, wo wir anfangen sollen. Und was noch schlimmer ist: Die unbegrenzten Möglichkeiten fordern natürlich auch dazu auf, sich ihrer zu bedienen. Die Folgen sind Stress und Überforderung.

Wer seine Zeit — seine Arbeits-, Freizeit und Lebenszeit — nicht bis zur letzten Sekunde effektiv nutzt, der fällt im Wettbewerb der „Winner“ ganz schnell ins hintere Läuferfeld zurück. Wer so denkt, hat natürlich ein Problem. Ein solcher Mensch ist Arro Ganter, der Protagonist und die Zentralfigur dieser schönen kleinen Satire.

Arro Ganter ist in gewisser Weise das aktuelle Pendant zu Molières Hypochonder Argan. Mit dem Unterschied, dass Arro Ganter eher an einer speziellen Form der Cyberchondrie leidet, denn er ist immer am Netz, ständig online. Da Arro dazu neigt, sich seines Körpers und seiner Funktionen stets sehr bewusst zu sein, bedient er sich selbstverständlich auch der vermeintlichen Vorteile, die das Internet ihm bietet.

So surft er permanent auf den verschiedensten Gesundheitsseiten und findet immer wieder neue Diagnosen für seine körperlichen Gebrechen. Herzstück seiner digitalen Diagnostik ist aber seine Gesundheits-App, die er durch Eingabe seiner Pulsfrequenz- und anderer (lebenswichtiger!) Werte auf Stand hält.

Die Autorin weiß diese schöne neue Welt durch hübsche Neologismen zu schmücken. Ganz besonders nett sind der Ditschitl Doc, eben jene Gesundheits-App und ein Online-Doktor, der auf alles eine Antwort hat, oder auch das Schmacht-Phone, das in unserer Umwelt allgegenwärtig ist. In dieser kleinen Erzählung finden sich noch eine Reihe weiterer Wortschöpfungen, die die ohnehin schon unterhaltsame Lektüre noch weiter würzen.

Gehen Sie mal auf die Straße und schauen Sie sich die Leute an, die selbstversunken auf ihr Display starren, das Schmacht-Phone andächtig in den Händen halten, in einem — mal zärtlichen, mal zornigen —intimen Gespräch mit ihrem Fetisch vertieft sind, in einem Gebet und in der Hoffnung, von ihrem digitalen Gegenüber eine Nachricht, einen Hinweis, eine Weisung zu erhalten, die ihr Leben wieder in Ordnung und sie selbst zurück auf den richtigen Weg führt.

Diese 100 Seiten umfassende Satire kann und wird man in einem Rutsch lesen. Sie ist sehr flüssig geschrieben, und eigentlich ist es keine Erzählung, sondern ein Stück. Der Stoff wird nicht episch, sondern dramatisch aufbereitet, mit anderen Worten: Der Text besteht zu großen Teilen aus direkter Rede, aus Dialogen, wird von jenen getragen und nur durch wenige beschreibende Einschübe ergänzt. Insofern bietet sich „Arro Ganter“ für eine Bearbeitung als Theaterstück an.

Wir können alle von Arro Ganter lernen. Wie er die Welt sieht, wie er sich verrückt macht und machen lässt von seinen Gesundheitsdaten und den digitalen Doktoren, die ihm immer neue, immer bessere Therapien empfehlen. Das alles ist heute so leicht mit wenigen Klicks zu finden; doch wer sagt uns, welche „Expertenmeinungen“ im Internet auf Kompetenz und was auf Scharlatanerie beruhen? Digitale Quacksalber gibt es da draußen zuhauf. Davor warnt auch die Autorin, die als Ärztin weiß, wovon sie spricht. Nicht selten erscheinen vor allem junge Leute bei ihr in der Arztpraxis, die zuvor ihr Krankheitsbild im Internet schon abgecheckt und vielleicht sogar schon versucht haben sich zunächst selbst zu therapieren.

„Arro Ganter – Der eingebildete Kranke 2.0“ ist eine unterhaltsame, aber auch nachdenklich stimmende Lektüre. In den Zeiten von digitalen Wristbands, Gesundheits-Apps und Ditschitl Docs ist es oft nur noch ein kleiner Schritt zur Cyberchondrie und der allzu sensiblen Selbstbetrachtung der körperlichen Wehwehchen. Heute werden wir alle auf die permanente Optimierung aller Lebensbereiche programmiert. Der Gedanke, der dahintersteht, ist: Wer krank wird, hat etwas falsch gemacht! Er hätte sich ja selbst vermessen und rechtzeitig seine Gesundheitsdaten überprüfen können!

Doch dieses Denken führt am Ende nur zu einer permanenten Selbstkontrolle und zur Illusion einer bis ins letzte Körperorgan möglichen Selbststeuerung. Natürlich ist es immer sinnvoll, auf den eigenen Körper und seine Signale zu hören. Aber ein allzu intensives In-sich-hinein-Horchen führt oft in die falsche Richtung.

Bei gesundheitlichen Beschwerden sollte man immer den Arzt aufsuchen. Dieser hat zwar nur noch selten genügend Zeit, um seine Patienten wirklich genau kennenzulernen und auf alle Details einzugehen; doch der Arzt kann, was kein Computer und keine App kann: Er kann zuhören und antworten; und er hat die Kompetenz und Erfahrung, aus den vielen kleinen Signalen und Daten eine kompetente Diagnose zu stellen und die entsprechend wirksame, individuelle Therapie für den Patienten zu finden.

Lesen Sie „Arro Ganter – Der eingebildete Kranke 2.0“ — und bleiben Sie gesund!

 

Autor: Franziska Kamp
Titel: “Arro Ganter – Der eingebildete Kranke 2.0”
Taschenbuch: 116 Seiten
Verlag: tredition
ISBN-10: 3732378861
ISBN-13: 978-3732378869

 




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